Dezember 2005:

Märkte drohen Deutschland mit Wirtschaftskrieg!

Rainer Apel analysiert den Koalitionsvertrag, auf den sich CDU/CSU und SPD geeinigt haben. Was im Vertrag steht, ist bestenfalls "durchwachsen", was nicht drin steht, ist das eigentliche Problem. Trotzdem erregt er den Unmut der Finanzelite.

Franz Müntefering
Der SPD-Bundesparteitag in Karlsruhe ist gelaufen. Welche Auswirkungen das Resultat auf die große Koalition hat und welche Maßnahmen die internationale Finanzelite selbst dagegen bereithält, analysiert unser Wirtschaftsjournalist im folgenden Artikel.

Das Bild zeigt Franz Müntefering, Kritiker aller "Heuschrecken".

Die anhaltende Kritik spekulativer Finanzkreise am Koalitionsvertrag - zuletzt von Seiten der amerikanischen Ratingagentur Standard & Poors (S&P) - deutet an, daß in der Großen Koalition mehr Positivpotential angelegt ist, als es diesen Kreisen lieb ist. S&P bewertete am 16. November das Koalitionsprogramm als "unzureichend". Die Budgetkürzungen seien unzureichend. Beim Kündigungsschutz und bei der Reform des Gesundheitswesens gehe die Koalition "nicht weit genug". Die Amtszeit von Kanzlerin Merkel sei aber die "letzte Chance" für Deutschland, seine Staatsverschuldung durch drastische Maßnahmen abzubauen. Gelinge das nicht, werde Deutschland unweigerlich unter den Druck der internationalen Finanzmärkte kommen. Im Klartext: Deutschlands "Rating" wird heruntergestuft und die Regierung wird mehr Zinsen auf ihre Schulden zahlen müssen.

Diese Drohung der internationalen Hochfinanz wird flankiert von wiederholten Attacken des Hedgefonds-Spitzenmanagers Friedrich Merz auf die Große Koalition, in der seiner Ansicht nach "zuviel SPD drin steckt". Für die Kanzlerschaft von Angela Merkel sieht Merz deshalb keine lange Lebensdauer - und wünscht sie auch nicht. Gegenüber diesen aggressiven Tönen klingt der Kommentar der ansonsten stramm neoliberalen Tageszeitung Die Welt vom 16. November schon anders: "Ein Blick auf das Grundgesetz, den Koalitionsvertrag und auf das Wahlergebnis vom 18. September sollte einen davor bewahren, die Verknüpfung von Sozialstaatlichkeit und Staatsräson für weltfremd zu halten. Die SPD merkt, daß sich der Wind dreht. Die Reformschamanen haben ihre Auftritt in den Talkshows gehabt. Der demokratische Souverän ist ihnen nicht gefolgt. So sieht die Wirklichkeit aus."

In der Tat fällt auf, daß die Koalition größere Einschnitte erst ab 2007 einplant. Das kann zweierlei bedeuten: Das Jahr 2006 soll dazu dienen, den "Patienten so weit wiederherzustellen, daß er dann operiert werden kann", denn Merkel will die Maastricht-Kriterien ab 2007 wieder erfüllen. Oder aber, im kommenden Jahr werden sich die Rahmenbedingungen in der Weltwirtschaft und dem Finanzsystem dermaßen ändern, daß eine ganz neue Lage entsteht.

Für das kommende Jahr zeigen sich zunächst einige sinnvolle, wenn auch noch sehr zaghafte Ansätze für Investitionen. Finanziert werden die Investitionen allerdings durch weitere Privatisierungen im Wert von etwa 12-13 Milliarden Euro, durch Teilverkäufe der Bundesbankgoldreserve sowie durch Subventionskürzungen, die bereits ab Januar 2006 gelten - Eigenheimzulage, Gebäudeabschreibung für Mietwohnungen, Steuersparfonds. Wirkliche Kreditschöpfung für große öffentliche Investitionen bleibt nach wie vor ein Fremdwort in der Regierung, obgleich die "Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts" eine offensichtliche Tatsache ist.

In den folgenden Abschnitten wird ein kritischer Blick auf einige wirtschaftspolitische Kernbereiche des Koalitionsvertrages gerichtet: 1) sinnvolle Maßnahmen; 2) negative Maßnahmen; 3) wichtige Themen, die einfach ausgeblendet wurden.

1. Sinnvolle Maßnahmen

Positiv zu werten ist, daß auf das ursprünglich von Merkel gewollte "100-Tage-Sofortprogramm" für einschneidende Haushaltskürzungen verzichtet wurde. Stattdessen fährt die Koalition einen Kurs der höheren Kreditaufnahmen, wofür man dann doch auf die "Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts" zurückgreift.

Offenbar geleitet von der Einsicht, daß die deutsche Wirtschaft dringend einige Aufbauspritzen braucht, damit die Binnenkonjunktur nicht in völliges Siechtum verfällt, haben die Koalitionäre ein Investitionsprogramm im Umfang von insgesamt 25 Milliarden Euro für die kommenden vier Jahre angekündigt. Die Einzelposten, von denen allerdings kaum einer über die Summe von 1 Milliarde jährlich hinausgeht, unterteilen sich in direkte Investitionen mit sofortigen Impulsen auf den Arbeitsmarkt - insbesondere im Verkehrsbereich - und indirekte mit verzögerten Impulsen (z.B. steuerliche Absetzbarkeit von Handwerkerrechnungen, neues Winterkurzarbeitergeld für die Baubranche oder Familiengeld).

In der Präambel des 190seitigen Koalitionsvertrages (mit Anhang) heißt es, zum Ärgernis der radikalen Steuersenker: "Zur schnellen Belebung der Investitionstätigkeit sind jetzt höhere Abschreibungen dringlicher als niedrigere Steuersätze" - das ist vor allem für den Mittelstand äußerst wichtig.

Die von der EU-Kommission geplante Richtlinie für den Dienstleistungsbereich, die vor allem das Handwerk mit Dumpingpreisen und -löhnen bedroht, wird in ihrer derzeitigen Fassung abgelehnt.

Es soll einen Ausbau der Kreditprogramme der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) für den Mittelstand geben, sowie gesteigerte Projektförderung bei einigen Spitzentechnologien in der Energie, Mikrosystemik, Raumfahrt, Optik und im Nano-Sektor.

Im Verkehrssektor sind zusätzlich 4,3 Milliarden Euro, verteilt auf die nächsten vier Jahre, vorgesehen, wobei in der Finanzierung die neue staatliche Infrastruktur-Investitionsagentur, die Kredite bis zu 1 Milliarde Euro jährlich aufnehmen darf, eine wichtige Rolle übernehmen wird.

Es wird mit Blick auf den erwarteten Anstieg des Verkehrsvolumens bei Personen um 20% und bei Gütern um 64% über die nächsten zehn Jahre im Koalitionsvertrag erklärt: "Der Schienenverkehr ist unverzichtbar, um das Verkehrswachstum der Zukunft ökonomisch effizient und ökologisch verträglich zu bewältigen... Für den Erhalt und Ausbau der Schienenwege sowie für die Planungssicherheit des Netzbetreibers müssen die Mittel für die Eisenbahninfrastruktur deutlich erhöht und dauerhaft auf dem erhöhten Niveau verstetigt werden."

Leider findet sich ein Bekenntnis der Koalition zum Transrapid nur in einem Satz in der Präambel zum "Ausbau von Bahnschnellsystemen, unter anderem mindestens einer Transrapidreferenzstrecke in Deutschland", womit die Münchner Flughafenanbindung gemeint ist. Leider erklärt die Koalition auch, sie wolle am Plan für den Börsengang der Bahn festhalten, immerhin wird jedoch kein Datum dafür genannt.

Im Energiebereich wird, leider auch nur nebenbei, erwähnt, daß die Fusionsenergieforschung gefördert werden soll. Vom Sofortabbau der Kohlesubventionen ist man offenbar abgekommen, denn bis 2008 gelten die bisher gemachten Zusagen weiter. Andererseits werden finanzielle Hoffnungen auf den geplanten Börsengang der Ruhrkohle-AG gesetzt, die Verhandlungen darüber sollen Anfang 2006 beginnen.

Zu den sinnvollen, auch von den Gewerkschaften trotz anhaltender Skepsis begrüßten Maßnahmen der Koalition gehört das Bekenntnis zum Fortbestand der Tarifautonomie, zum Verzicht auf Kürzungen der Steuerbefreiungen für Nacht-, Schicht- und Feiertagsarbeit. Damit sind zwei wichtige Aspekte des deutschen Sozialstaatsmodells abgesichert, auch wenn mit der Einführung einer zweijährigen Probezeit der Kündigungsschutz aufgeweicht wird.

Insgesamt ist festzuhalten, daß die sinnvollen Beschlüsse der Koalitionäre wesentlich aufgebessert werden müssen, vor allem im Umfang öffentlicher Investitions- und Fördermaßnahmen, um einen sichtbaren Soforteffekt auf den Arbeitsmarkt zu haben. Hierzu müßte sich die Regierung jedoch dauerhaft aus dem Maastrichter Zwangsjackett befreien und zur Währungssouveränität zurückkehren.

2. Negative Maßnahmen

Das bereits in der Präambel zum Koalitionsvertrag gegebene Bekenntnis zur angeblichen Unerläßlichkeit der Haushaltssanierung, um bis zum Jahr 2007 das Maastrichter Defizitkriterium zu erfüllen. Das kann zum Rohrkrepierer für die Große Koalition werden. Diese ebenso negative wie überflüssige Festlegung würgt Investitionen, Wachstum und Beschäftigung ab, ohne die es keinen erhöhten Steuerzufluß in die öffentlichen Kassen geben wird. Bei einem Wirtschaftswachstum von 3-5% löst sich das Problem der Staatsverschuldung in Wohlgefallen auf.

Das Mindeste, was die Koalitionäre hätten beschließen sollen, wäre eine Ankündigung der Absicht, "Maastricht" neu zu verhandeln, zumal in anderen Ländern der Eurozone der Druck, in diese Richtung zu marschieren, deutlich zunimmt. Das hätte eine Tür offen gelassen, um weitere Spielräume für Investitionen ab 2007 zu gewinnen.

Die Koalition hält auch am Europäischen Verfassungsvertrag fest, der seit den gescheiterten Referenden in Frankreich und in den Niederlanden keine Chance auf Verwirklichung mehr hat. Es bleibt nur zu hoffen, daß die allgemein erwartete Verschärfung der Krise des Euro-Systems in den kommenden Monaten doch noch zum Umdenken in Berlin führt.

Bei der Konsolidierung der Staatsfinanzen ab 2007 sollen folgende Maßnahmen ergriffen werden: Weitere Privatisierungen von Staatsbesitz (Telekom, Flughäfen, Autobahnen, usw.). Einsparungen in der öffentlichen Verwaltung um 1 Milliarde Euro jährlich und um den gleichen Betrag in der Regionalförderung. Die Streichung der Eigenheimzulage trifft einen Hausbaumarkt, der 2005 bereits einen Verfall von 30% an Neubauprojekten zu verzeichnen hat.

Die Erhöhung der Mehrwertsteuer ab 2007 wird, selbst wenn Lebensmittel davon ausgenommen sind, den Konsum bei anderen Gütern stark senken, so daß der Einzelhandel wie das Handwerk zusätzlich unter Druck kommen. Zwar soll die Ökosteuer nicht weiter angehoben werden, aber sie wird auch nicht abgebaut, was die Industrie wie die Verbraucher weiter stark belastet und das Wirtschaftswachstum hemmt.

Was Maßnahmen gegen die Finanzspekulation angeht, so übernimmt die Koalition von der SPD-Seite lediglich ein unverbindlich gehaltenes Bekenntnis, sich "auf internationaler Ebene für eine angemessene Aufsicht und Transparenz von Hedgefonds" einzusetzen. Angesichts der realwirtschaftlichen Schäden durch den spekulativen Preisauftrieb bei Energie und Rohstoffen ist das wirklich allzu dürftig.

Was die Koalition auf der einen Seite durch sinnvolle Maßnahmen in Bewegung bringt, wird bereits 2006 in etlichen Bereichen sogleich wieder abgebremst. Angesichts der steigenden Benzinpreise sind auch die geplanten Kürzungen in der Förderung des öffentlichen Personennahverkehrs in Höhe von 350 Millionen Euro jährlich - was sich in drastischen Erhöhungen der Fahrpreise niederschlagen wird - ein nicht gerade bürgerfreundlicher Beschluß. Das wird sich bei den anstehenden Landtags- und Kommunalwahlen bemerkbar machen.

Ein trübes Kapitel der Koalitionsvereinbarungen ist, daß die CDU-CSU in den kommenden vier Jahren nicht am rot-grünen Atomausstieg rütteln will, weil sie sich dafür im Austausch die Zustimmung der SPD zur Mehrwertsteuererhöhung einhandelte. Zwar soll die Forschung im Bereich der Kernkraftsicherheit fortgesetzt werden, aber ansonsten bleibt es vorerst beim Aus für die Kernkraft: "Zwischen CDU, CSU und SPD bestehen hinsichtlich der Nutzung der Kernenergie zur Stromerzeugung unterschiedliche Auffassungen," stellt der Koalitionsvertrag fest. "Deshalb kann die am 14. Juni 2000 zwischen Bundesregierung und Energieversorgungsunternehmen geschlossene Vereinbarung und können die darin enthaltenen Verfahren sowie für die dazu in der Novelle des Atomgesetzes getroffene Regelung nicht geändert werden."

Nicht einmal die zuvor in der Union angedeuteten Laufzeitverlängerungen für Kernkraftwerke soll es geben. Das Ganze ist ein Trauerspiel, das aber auch damit zu tun hat, daß das Bekenntnis der Union zur Atomkraft eben nicht sehr stark ist. Dabei hätte die Union zusätzliche Anstrengungen unternehmen sollen, jetzt, wo die SPD die Grünen los ist, den Sozialdemokraten eine Brücke zur Wiederbejahung der Kernkraft zu bauen.

Die SPD wiederum ist seit Münteferings "Heuschrecken-Rede" bisher nicht wesentlich in ihrer laufenden Debatte über den Vorrang des Gemeinwohls vorangekommen. Zwar enthielt das neue Karlsruher Parteiprogramm ein Bekenntnis zum Gemeinwohlprinzip, in Gestalt einer "Mitverantwortung des Staates für volkswirtschaftliche Zusammenhänge" und einer "Mitverantwortung der Unternehmer für das Gemeinwohl"; und die deutschen Neocons in Union und FDP wurden in Karlsruhe als "Zerrbild des US-amerikanischen Kapitalismus" gebrandmarkt.

Aber an der Agenda 2010 - immerhin ein tiefer Einschnitt für einige Millionen Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger - will die SPD ebenso festhalten. So erklärt sich, warum im Koalitionsvertrag lediglich eine Verteidigung von Mindestbeständen des Sozialstaates zustandekam. Das mag Marktradikale verärgern, aber es ist Ersatz für eine Wirtschafts- und Sozialpolitik, die Investitionen, Wachstum und soziale Gerechtigkeit erreicht.

3. Ausgesparte Themen

Der allergrößte Mangel des Koalitionsvertrages ist, daß er auf die Krisenlage der Weltwirtschaft und des Finanzsystems überhaupt keinen Bezug nimmt. Weder die Krisen von Dollar und Euro, noch die Schieflage großer Banken, Hedgefonds und Industrieunternehmen, noch die Spekulation bei Öl- und anderen Rohstoffen, noch das Zahlungsbilanzdefizit der USA, noch die Bruchlinien in der Europäischen Währungsunion, noch die durch den Tsunami oder den Hurrikan Katrina verursachten Großnotlagen werden angesprochen. Von dem, was zumindest der scheidende Bundeskanzler Schröder hierzu an Sinnvollem in den letzten Wochen zu sagen hatte, konnte oder wollte die SPD offenbar nichts in die Koalitionsverhandlungen einbringen. Es gibt nur den erwähnten Halbsatz über "Aufsicht und Transparenz der Hedgefonds".

Dem Koalitionsvertrag haftet etwas Gespenstisches an, weil die auch die deutsche Lage bestimmende Realität der Weltwirtschafts- und Finanzkrise nicht zur Sprache kommt. Man kann nur raten, welche Maßnahmen die Große Koalition im Falle einer akuten Verschärfung der Wirtschaftskrise wohl ergreifen würde? Man kann nur hoffen, daß vielleicht einige Dinge vorgedacht sind.

Das Thema "Neues Bretton Woods", das eigentlich im ureigensten Interesse der neuen Bundesregierung liegen sollte, eben weil die deutsche Wirtschaft so extrem vom Export abhängig ist, wird übergangen. Die dramatischen Veränderungen in der amerikanischen Politik bleiben unerwähnt, obgleich sie für Deutschland enorme Auswirkungen haben. Wirtschaftspolitischer Provinzialismus ist ein Luxus, den sich Deutschland schlicht nicht leisten kann. Es sieht so aus als hätten die Bürger ein feineres Gespür für die Krise als die Politiker. Viele Bürger sind aufgrund der laufenden Krisennachrichten aus Europa und aus der Welt zu Recht besorgt, müssen aber erstaunt feststellen, daß die etablierten Politiker kaum etwas hierzu zu sagen haben. Von einer politischen "Elite", die eine führende Industrienation wie Deutschland führen will, ist mehr zu verlangen.


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