September 2004:

Gehören Stromausfälle demnächst zum Alltag?

Beim Pressegespräch des Zentralverbandes Elektrotechnik- und Elektronikindustrie e.V. (ZVEI) am 27. September in Mannheim hieß es: Ohne Kernenergie bzw. Kernfusion kann die Energieversorgung langfristig nicht gesichert werden.

Kernkraftwerk Neckarwestheim
Im Bild das Kernkraftwerk Neckarwestheim. In Jahrzehnten wurde praktisch nichts mehr in die Stromversorgung Deutschlands investiert. Nun ist die Stromversorgung in zunehmendem Maße gefährdet und der Strompreis entwickelt sich proprotional zum "Shareholder-Value". Lothar Komp berichtet über eine Energie-Konferenz in Mannheim.

Die deutsche Stromversorgung ist in zunehmendem Maße gefährdet. Wenn nicht sofort die Weichen für eine radikal neue Energiepolitik gestellt werden, dann muß man sich hierzulande auf permanente Stromausfälle mit verheerenden Konsequenzen für Arbeitsplätze und Lebensstandard einrichten. Dies war der Tenor eines Pressegesprächs des Zentralverbandes Elektrotechnik- und Elektronikindustrie e.V. (ZVEI) am 27. September in Mannheim. Und in krassem Gegensatz zu den vorherrschenden wirtschaftlichen Dogmen sei es gerade die Liberalisierung des Energiesektors im Jahre 1998 gewesen, durch die der Weg ins energiepolitische Chaos bereitet wurde. Laut ZVEI sind beispielsweise die Investitionen der Energieversorger in die Stromerzeugung seit 1998 um 45% abgestürzt, während die Investitionen in die Stromnetze gleichzeitig um 30% schrumpften. Ein erheblicher Teil der Netze ist mittlerweile 50 Jahre alt oder älter und muß dringend erneuert werden.

Doch der Investitionsstau ist längst nicht das einzige Problem. Dr. Joachim Schneider vom Vorstand des ZVEI betonte in Mannheim, die Versorgungssicherheit sei noch zusätzlich durch den Ausbau der Windenergie in Deutschland gefährdet. Zunächst einmal erfordere allein schon die Integration der dezentral bereitgestellten erneuerbaren Energien erhebliche Investitionen in die Stromnetze. Mindestens 1000 bis 1200 Trassenkilometer, einschließlich der dazu gehörenden Schaltanlagen und Leittechnik, müßten neu errichtet werden. Hierbei sei der Anschluß der geplanten Offshore-Windenergieanlagen noch gar nicht eingerechnet. Weiterhin müsse für jedes Megawatt Windkraftleistung rund um die Uhr etwa 0,85 Megawatt Reserveleistung aus konventionellen Anlagen abgezweigt werden, um bei Windflauten Spannungsschwankungen zu vermeiden.

All dies trifft eine Netzinfrastruktur, die unter anderem aufgrund der Liberalisierung einen rasant ansteigenden Stromhandel zu bewältigen hat. Schneider betonte, daß der "andauernde Investitionsattentismus" nicht nur "gravierende Folgen" für die deutschen energietechnischen Unternehmen haben wird, sondern zudem auch die Versorgungssicherheit aufs Spiel setzt, "da die Substanz bald aufgezehrt ist". Insbesondere in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit grenzt der Einbruch der Investitionen ans Absurde. Denn, wie Schneider feststellte: "Investitionen in die Infrastruktur würden gerade jetzt einen nachhaltigen Beschäftigungsimpuls auslösen."

Speziellere Angaben zum Nachholbedarf an Energieinvestitionen machte beim Pressegespräch der stellvertretende Vorsitzende des ZVEI-Fachverbandes Energietechnik Ralf Guntermann: "Bis zum Jahr 2020 erreichen Kraftwerke (überwiegend Kohlekraftwerke im Grundlastbereich) mit einer installierten Leistung von rund 40 000 MW ein Alter von 40 Jahren und stehen damit am Ende ihrer technischen Lebensdauer. Dies entspricht rund 40% der gesamten installierten Kraftwerksleistung in Deutschland. Durch den beschlossenen Ausstieg aus der Kernenergie werden bis zum Jahr 2025 zusätzlich etwa 22 000 MW Kraftwerksleistung stillgelegt."

Ohne Kernenergie bzw. Kernfusion geht es nicht

Guntermann weiter: "Durch die altersbedingte Stillegung konventioneller Kraftwerke und den beschlossenen Ausstieg aus der Kernenergie droht uns eine erhebliche Versorgungslücke. Allein der Ersatzbedarf beträgt bis zum Jahr 2025 rund 60 000 MW. Zur Verdeutlichung: Dies entspricht etwa 80 Kohlekraftwerken mit einer Leistung von jeweils 750 MW. Die notwendigen Investitionen für neue Kraftwerke sowie für laufzeitverlängernde und leistungserhöhende Maßnahmen an bestehenden Anlagen werden für die kommenden zwei Jahrzehnte auf bis zu 40 Mrd. Euro veranschlagt.

Erschwerend kommt hinzu, daß es sich hier nicht um ein rein deutsches Phänomen handelt. Auch in Europa steht ein Großteil des Kraftwerkparks vor der Erneuerung. Der Investitionsbedarf hierfür ist enorm: Bis 2030 sind allein in den bisherigen 15 EU-Ländern Investitionen von rund 333 000 Megawatt (bis 2020: 200 000 MW) Kraftwerksleistung zu bewältigen. Die EU-Kommission veranschlagt die notwendigen Investitionen für neue Kraftwerke auf 250 Mrd. Euro.

Die EU-Energiekommissarin Loyola de Palacio brachte es bereits Ende vergangenen Jahres auf den Punkt: Aufgrund der Überalterung der bestehenden Kraftwerke sollte in Europa fast jede Woche ein neues Kraftwerk gebaut werden. Wenn nichts unternommen werde, so könnten in vier bis sechs Jahren die Spielräume aufgezehrt sein. Um Engpässe und Ausfälle zu vermeiden, müßten daher möglichst bald neue Kraftwerke ans Netz gehen. Davon kann jedoch in weiten Teilen Europas keine Rede sein." Werden diese Investitionen nicht getätigt, so Guntermann, drohen uns bald Verhältnisse wie in Kalifornien.

Langfristig geht zudem an der Nutzung der Kernenergie kein Weg vorbei. Darauf wies in Mannheim Prof. Dr. Harald Weber vom Institut für Elektrische Energietechnik in Rostock hin. Blackouts und drastisch steigende Ölpreise haben in der jüngsten Vergangenheit ins Bewußtsein treten lassen, daß Energieversorgung keine Selbstverständlichkeit ist. Sarkastisch bemerkte Weber zum vorherrschenden Zeitgeist: "Auch die Ablenkungen des Internetzeitalters helfen hier nicht wirklich weiter, in welchem man glaubt, daß nur noch Mobilkommunikation und Informationstechnik des Schweißes der Edlen wert seien und daß Beschäftigung mit der ,schmutzigen' Technik der Energieversorgung eigentlich etwas Minderwertiges darstellt. Das hatte sich spätestens auch mit den ersten ernsthaften Blackouts erledigt, als über lange Tage hinweg Teile Europas im Dunkeln lagen, mit allen zugehörigen Handys und Computern."

Auch bei regenerativen Energien mußte trotz erheblicher Subventionierung festgestellt werden, "daß die Rückkehr ins Energieparadies versperrt ist: Wind und Sonne blasen und scheinen nicht immer, Speichertechniken für die Energie sind nicht verfügbar, ,Back-up-Kraftwerke' für diese intermittierenden Energien sind teuer und bislang nicht ausreichend vorhanden, große Windparks kommen in Konflikt mit dem Tourismus, Biomasse kann den riesigen Bedarf nicht decken, der Ausbau der Wasserkraft wird durch Topographie und Naturschutz behindert und zu alledem sind diese Energieformen offensichtlich auch noch sehr teuer."

Eine "einigermaßen sichere und zivilisationserhaltende Versorgung aller Menschen dieser Erde" kann nur sichergestellt werden, so Weber, wenn die zukünftige Energieversorgung "radikal" geändert wird. Bis 2020 könne man mit den bestehenden Technologien noch irgendwie über die Runden kommen. "Darüber hinaus gehende Möglichkeiten jedoch müssen auf ganz andere Techniken setzen, nämlich entweder wieder die Kernspaltung oder aber die doch wesentlich gutmütigere Kernverschmelzung. Die Kernspaltung wird schon heute in vielen hochbevölkerten Ländern als willkommene Energiequelle angesehen, und es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis diese Energie auch in Europa wieder ernsthaft diskutiert wird."

Bei der Kernfusion, für die keine langwährende Endlagerung erforderlich ist, laufen bereits die Vorbereitungen für das ITER-Projekt. Riesige Forschungsanstrengungen werden notwendig sein. "Es ist aber schon viel gewonnen, wenn sowohl bei den Entscheidungsträgern politischer und technischer Couleur als auch bei den einfachen Energieendverbrauchern die Einsicht wächst, daß Energie und die Versorgung mit Energie nicht eine einfache und zu vernachlässigende Sache ist, welche man am besten im Verborgenen arbeitenden Fachleuten überläßt. Energie und die Versorgung mit Energie ist, wie übrigens auch Wasser und die Versorgung damit, ganz im Gegenteil eine Überlebensfrage für die heute Lebenden sowie für die nachfolgenden Generationen, und es zeugt von großer Weitsicht, wenn man sich der Energie- und Wasserfrage mit aller Kraft annimmt."


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