Juli 2004:
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Ärztlicher Alltag und Autonomie: Illusion und Patientenverfügung

Filderklinik Filderstadt
Der nachfolgende Text basiert auf einem Vortrag, den Dr. Paolo Bavastro, leitender Arzt der Filderklinik bei Stuttgart, am 19. Oktober 2002 in Essen zum Thema "Patientenverfügung" gehalten hat. Wir veröffentlichen ihn mit freundlicher Genehmigung des Club of Life.

Hier der Innenhof der Filderklinik.

Wir leben in der Illusion, alles regeln zu können. Es läßt sich jedoch am Lebensende keine Planungssicherheit erreichen. Gerade in der Lebensphase, in der sich uns die Verfügbarkeit über das Selbst sowie über die eigene Leiblichkeit oft aus biologischen Gründen entzieht, wollen wir über uns selbst verfügen. Ich halte die Patientenverfügung, oder auch andere Instrumente für eine gefährliche Illusion, so als könne man sicher bestimmen, wie der Tod sein wird. Jeder, auch der Beatmete stirbt seinen Tod. Die Würde des Menschen wird nicht durch eine Maschine verletzt, sondern durch die Art oder Unart der Sterbebegleitung. Zu glauben, daß der heutige Mangel an Zeit im Gesundheitswesen durch eine Patientenverfügung ausgeglichen werden könne, halte ich ebenfalls für eine Illusion. Unter den katastrophalen, zum allergrößten Teil von der Politik erzeugten Bedingungen des Gesundheitswesens, spielt die Verfügung gewissermaßen dem Zeitmangel in die Hände. In einer solchen Situation ist jeder Patient willkommen, der von sich aus per Verfügung, Hilfe und Therapie verweigert. Der Weg aus dem Zeitmangel herauszukommen, wäre eine andere Vergütung, die die technische sowie die sprechende Medizin und die Zuwendung adäquat honoriert.

Die Nein-Formulierung

Ich möchte gerne aus dem praktischen Erleben des täglichen Umgangs des Arztes mit Patientenverfügungen einige Aspekte schildern. Wir erleben fast täglich eine Diskrepanz zum Rechtlichen; man muß sich fragen, ob alleinige rechtliche Überlegungen sich nicht ein wenig in einen juristischen autistischen Turm des Selbst, der Autonomie hineinbewegen und an der Realität völlig vorbeigehen.

Patientenverfügungen sind - ich kenne leider keiner andere - aus der Angst heraus formuliert, immer in der Abwehrhaltung: Wenn ich mich in einem Zustand befinde, in dem ich mich nicht mehr äußern kann, dann will ich dieses oder jenes nicht. Ich kenne keine einzige Verfügung, die besagt: Wenn ich in jenem Zustand bin, dann will ich das oder jenes. Sie sind also alle im Nein formuliert. Das ist auch verständlich, denn sie sind aus der Angst entstanden, daß man medizinisch zu viel macht, daß man das Falsche macht, daß man auch allein gelassen wird. (Das Stichwort heißt hier: die Apparatemedizin.)

Das bedeutet aber: Wenn ich als Arzt vor einer solchen Patientenverfügung stehe, dann hat mir der Patient erst einmal die rote Karte gezeigt und gesagt: Nein, das will ich nicht. Das heißt: Durch seine Angst verschließt er sich der helfenden Beziehung zum Arzt und stellt sich in eine Situation, in der er selbst verursacht allein ist. Doch er wollte mit der Patientenverfügung das Alleinsein gerade verhindern! Die Beziehung zwischen zwei Menschen, in unserem Fall zwischen Arzt und Patient, ist ein Element der Würde. Verweigert der Patient die Beziehung, stellt sich die Frage: Dürfen wir zulassen - ich sage das etwas überspitzt - , daß ein Mensch sich selbst aus der Würde durch ein Stück Papier herausarbeitet?

Eine Patientenverfügung entsteht meist aus Beziehungslosigkeit; sie bricht aber selber Vertrauen; sie setzt Vertrauen (zum Selbst und zu dem Mitmenschen) außer Kraft und verstärkt somit die Beziehungslosigkeit. Mit der Bemerkung, man wünscht die Gabe von Schmerzmitteln, um Leid zu vermeiden, unterstellt man zudem implizit dem Helfenden unprofessionelles Handeln - wiederum eine Geste des Mißtrauens.

Grenzen der Selbstbestimmung

Sie kennen die Rede des Bundespräsidenten Johannes Rau "Wird alles gut?" im Mai 2000. Er spricht dort an, daß die Autonomie, von der wir alle sprechen, an Bedingungen gebunden ist: "Die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen hat herausragende Bedeutung. Das darf uns den Blick nicht dafür verstellen, daß auch die Selbstbestimmung an Voraussetzungen gebunden ist und daß sie Grenzen hat." Ich denke, hier liegt ein zentraler Punkt. Voraussetzungen, die wir im täglichen Leben alle kennen. Verträge sind nicht gültig, wenn sie bestimmte Informationen oder Bedingungen nicht erfüllen. Nehmen wir als Beispiel aus der Medizin folgendes an: Wenn morgen früh ein Mensch am Blinddarm operiert werden muß, dann muß er heute aufgeklärt werden. Er muß heute Abend unterschreiben, ohne unter medikamentösem Einfluß zu stehen. Er muß mindestens eine Nacht dazwischen Bedenkzeit haben, damit er sich auch anders entscheiden kann, um dann morgen früh operiert werden zu dürfen. Ein anderes Verhalten würde juristisch Körperverletzung bedeuten. Und diese Einwilligung zählt nur für diesen einen konkreten Eingriff. Also: Wenn der Chirurg dann operiert und beispielsweise nicht nur einen entzündeten Blinddarm, sondern einen Morbus Crohn findet, müßte er streng genommen wieder den Bauch verschließen, den Patienten aufwachen lassen, mit ihm sprechen und dann wieder operieren - es sei denn, er hat sich vorher durch das Gespräch die Möglichkeit des weiteren Eingriffs eröffnet. Sie sehen, wie das im täglichen Leben streng gehandhabt wird.

Ist das in der Situation der Patientenverfügung gültig? In dieser Situation, in der eine Patientenverfügung gilt, ist dies prinzipiell nicht erfüllbar! Es gibt keine Aufklärung, die dies ermöglicht. Wie wollen Sie heute formulieren: Falls ich in 10 Jahren in dem oder jenem Zustand sein werde, soll dies oder jenes nicht mehr gemacht werden? In welchem Zustand? In welchem Alter? Welche Maßnahmen? Mit welchem Risiko? Was ist dann möglich? Vielleicht gibt es eine neue Therapie, die wir heute alle gar nicht kennen? Das Für und Wider der konkret vorliegenden Situation, das Abwägen ist prinzipiell nicht erörterbar, da die konkrete Situation nicht vorhersehbar ist!

D.h.: Die Bedingungen von Autonomie und Selbstbestimmung sind prinzipiell nicht erfüllbar! Alles andere wird zur Willkür! Wir erleben ganz konkret, daß die Bedingungen der Autonomie fehlen.

Ein Beispiel: Der Patient braucht einen Herzschrittmacher. "Das will ich aber nicht, denn dann kann ich nicht mehr sterben", ist eine häufige Reaktion. Die gängige Meinung ist, mit einem Herzschrittmacher nicht mehr sterben zu können. Eine solche Äußerung basiert auf Nichtwissen. Damit offenbart derjenige, daß er selbst die Bedingungen der Autonomie nicht erfüllt, nämlich: Information. Information schließt Selbstinformation mit ein. Den Patienten (den Bürger) nur in der passiven Rolle sehen zu wollen, als jemanden, der informiert werden will oder muß, ist eine einseitige Betonung der Rechte. Jeder Bürger hat auch Pflichten. Diese gehören dazu, wollen wir ernsthaft - nicht nur als Phrase - von Autonomie, Selbstbestimmung, Freiheit und Mündigkeit sprechen. "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit" - so Imanuel Kant schon 1783.

Wenn man dann mit den Menschen spricht und sie aufklärt, stellen sie fest, daß sie trotz Nichtwissen eine Patientenverfügung mit Ablehnung eines Herzschrittmachers verfaßt haben. Nach einem Gespräch mit entsprechender Information willigen sie dann in den meisten Fällen ein. An solchen Beispielen sieht man in der täglichen Praxis, wie die Bedingungen der Autonomie im Zustand des Patientenseins nicht in vollem Umfang möglich sind. Auch ist das, was ich heute am grünen Tisch entscheide, als Nichtbetroffener, der sich vorstellt, einmal betroffen zu sein, keineswegs identisch mit dem, was ich dann denke, wenn ich Betroffener bin. Das Verhältnis zu meiner Leiblichkeit ist im gesunden Zustand völlig anders, als im kranken. Der Zustand des Krankseins ist nicht antizipierbar.

Tägliches Erleben steht ebenso im Widerspruch zu dem, was die Juristen empfehlen und schreiben. Manche fordern: Ein Patient mit Herzinfarkt, Luftnot und Schmerzen soll nun aufgeklärt werden, wegen der Risiken der Lysebehandlung. Der Patient will das gar nicht wissen: Er ist dazu gar nicht in der Lage, er hat durch die existentiell verspürte Bedrohung keinen Abstand zu sich selbst; er will seine Schmerzen weghaben und er will Luft bekommen! Alles andere interessiert ihn nicht - aber den Juristen!

Es gibt Arbeiten die zeigen, daß über 80 Prozent der Menschen ihre Meinung im betroffenen Zustand ändern, wenn man die Entscheidungen am grünen Tisch mit der Situation des Betroffenseins vergleicht - auch alte Menschen, Bewohner von Altenheimen.

Unmögliche Prognosen

Vor diesem Hintergrund lesen wir den Text der Bundesärztekammer zur Patientenverfügung. Eine ähnliche Passage gibt es fast identisch in der sog. christlichen Patientenverfügung. Ich erlaube mir, diese Passage kritisch zu sehen: "Patientenverfügungen sind verbindlich, insofern sie sich auf die konkrete Behandlungssituation beziehen..." Das ist prinzipiell nicht möglich und daher unsinnig. Denn ein bewußtloser Patient, für den die Patientenverfügung gilt, ist prinzipiell nicht in der Lage, die konkrete, heute und jetzt vorliegende Krankheits- und Behandlungssituation zu kennen, geschweige denn, wie die Juristen so schön formulieren, das Für und Wider seiner Handlungen bzw. seiner Entscheidungen abzuwägen. Weiter heißt es in dem Text: "... und keine Umstände erkennbar sind, daß der Patient sie nicht mehr gelten lassen würde." Ist das etwa bei einem Bewußtlosen zu realisieren? Formulierungen wie der mutmaßliche Wille sind hierbei nicht hilfreich, dazu willkürlich und gefährlich. Wir reden hier im goldenen Turm einer konstruierten Autonomie, die in der Realität des Bewußtlosen in diesem Form nicht existiert. Da sind andere Kategorien weiterführend.

Ein weiterer Aspekt ist ebenfalls nicht lösbar: Derjenige, der eine Verfügung ausfüllt, ich nenne ihn Patient, geht in seiner Beurteilung der Lage - kurz gesagt - vom ex post aus. Unter dem Eindruck, daß irgendjemand in der Familie beispielsweise sechs Monate bewußtlos im Altenheim lag - also aus Kenntnis des Endes der Erkrankung, des Endergebnisses - verfügt er, daß er einen solchen Zustand fürchtet und unwürdig empfindet, daß er diesen Zustand nicht will und daß er in "Würde sterben" will, ohne Therapie. Das gilt selbstredend für andere Zustände ebenso. Ich kann aber als Arzt grundsätzlich zunächst nur aus dem ex ante einschätzen, entscheiden und handeln. Und es gibt große Unsicherheiten im ärztlichen Beruf in Bezug auf die Prognose, aus dem Jetzt den Ausgang einer Krankheit sicher bestimmen zu können. Diese Diskrepanz ist prinzipiell nicht überbrückbar, weder durch Computerprogramme noch durch Hellsichtigkeit. Ich handle als Arzt aus dem ex ante, während der Patient eine Verfügung aus dem ex post schreibt. Das muß man sich vor Augen führen, wenn man über diese Dinge diskutiert: Diese Spannung ist nicht aufzulösen!

Ein anderer Aspekt sind die unklaren Formulierungen. Ich provoziere ein wenig: Was heißt in Würde sterben? Was ist eine lebensverlängernde Maßnahme? Wenn Sie einen Laien fragen, dann sagt er meist Herz-Lungenmaschine. - Auf der Intensivstation wird aber meist beatmet. Die Herz-Lungenmaschine wird bei Herzoperationen am offenen Herzen eingesetzt, in aller Regel nicht notfallmäßig. - Für andere ist das schon ein Antibiotikum; wiederum für andere ist es eine Infusion, wenn beispielsweise Patienten exsikkiert sind, weil sie nicht schlucken können (siehe die Diskussion um die PEG). Aber ganz konkret: Jede Hebamme stellt eine lebensverlängernde Maßnahme für Mutter und Kind dar!

Mir geht es um folgenden Gesichtspunkt: Ich stehe als Arzt vor der Situation, daß mir jemand einen Zettel entgegenhält mit dem Text "Keine lebensverlängernde Maßnahmen". Was soll ich damit anfangen? Ich kann doch nicht raten und wissen, was der Bewußtlose mit diesem Begriff hätte meinen können. Ich kann ihn selber nicht fragen. Was soll ich als Arzt tun? Das ist die konkrete Situation. Da ist ein Bewußtloser, der nicht mehr atmet. Ich habe nicht die Zeit zu diskutieren, zu forschen, Angehörige zu befragen, denn sonst ist der Patient verstorben und die Diskussion erübrigt sich von selbst. Eine unklare Begrifflichkeit offenbart also mangelnde Information, mangelnde Aufklärung, nicht ausreichende Konkretheit. Es sind Placebobegriffe: Sie suggerieren Sicherheit, der Verfasser wiegt sich in Illusionen - gerade darin liegt aber die Gefahr!

Verfügungsgefahren

Wem helfen die Patientenverfügungen, wem helfen sie nicht? Etwas pointiert formuliert: Dem Arzt helfen sie, sie vereinfachen scheinbar Entscheidungen, dem Patienten helfen sie nicht. Warum sage ich das? Wie häufig erleben wir die Situation, daß jemand seinen Elternteil vom Altenheim ins Krankenhaus bringt mit der typischen Konstellation: Schluckbeschwerden, schlechtes Trinken, ist exsikkiert, hat eine Lungenentzündung. Das ist leider die typische Situation in einem schlecht geführten Altenheim. Therapie: Flüssigkeit und Antibiotikum, in einer Woche hat sich der Patient erholt und kann wieder entlassen werden. Es kommt aber ein Angehöriger - das habe ich oft so erlebt - und hält eine Patientenverfügung hoch mit dem Text "keine lebensverlängernden Maßnahmen". Auf die Frage, was damit gemeint sei, erntet man dann meist Schulterzucken. Und auf die weitere Frage "Warum bringen Sie dann Ihre Mutter?" erhält man zur Antwort "Glauben Sie, ich übernehme die Verantwortung?".

Wir sehen das Problem, das Problem der Verantwortung. Wir sind nicht allein auf der Welt. Es hat keinen Sinn eine Patientenverfügung zu schreiben, wenn nicht mein Umfeld - das mich pflegt und betreut, mit dem ich wohne - bereit ist, beispielsweise mein Sterben zu Hause zu begleiten. Es kann sein, daß die Angehörigen überfordert sind, es kann auch sein, daß sie gar nicht da sind, weil sie im Ausland leben. Kinderlose Ehen sind immer häufiger, so daß alte Menschen dann allein sind. Es hat dann keinen Sinn, im eigenen "goldenen Turm" irgendetwas zu schreiben, wenn meine Umgebung gar nicht da ist, oder nicht bereit ist, das zu tun, was ich wünsche. Ist die Verantwortung (die Eigenverantwortung) so schwer zu tragen, weil man sie nicht ertragen kann oder will?

Noch ein weiterer Gesichtspunkt: Die Patientenverfügung, rein ärztlich betrachtet, wird zur Gefahr für den Patienten, denn manche Dinge werden infolge von Unwissenheit aufgeschrieben. Wäre aber die Patientenverfügung verbindlich, bedeutete dies, daß ich tatsächlich nicht mehr therapieren dürfte, wenn das so verfügt wurde. Wieder radikal formuliert: Wenn ein junger Mensch beim ersten Liebeskummer ein paar Tabletten einnimmt, kann es notwendig werden, diesen Patienten einige Stunden zu beatmen. So gut wie alle sind dann froh, wenn sie nach der Extubation wieder zu Bewußtsein kommen und leben. Wenn so eine Patientenverfügung existierte und verbindlich wäre, müßten die Ärzte diesen jungen Menschen sterben lassen. Wollen wir das wirklich so? Von höchster juristischer Seite wird formuliert, daß die Verfügungen selbstverständlich zu beachten seien, daß der Arzt aber immer zu prüfen habe, ob die Bedingungen, die der Betreffende gemacht hatte, auch erfüllt sind. Ist das bei Bewußtlosen möglich? Was heißt im Einzelfall "zu beachten"? Liegt dann doch wieder die Verantwortung und die Prüfpflicht beim Arzt, was jedoch bedeutete, daß die Patientenverfügungen nicht verbindlich sein können?

Von juristischer Seite wird die Erneuerung der Unterschrift alle sechs Monate bis zwei Jahre gefordert, um die Aktualität des Willens zu dokumentieren. Ein Beispiel hierzu: Eine nahezu 80jährige Frau wird uns auf die Intensivstation gebracht mit Ateminsuffizienz bei pulmonaler Hypertonie, am Rande der Beatmungspflichtigkeit wegen einer Lungenentzündung. Sie hatte eine Patientenverfügung, in der sie die Beatmung nicht wollte. Da es eine untypische Verfügungssituation war (ich konnte mir ihr sprechen), führte ich ein Gespräch, um ihren Willen zu eruieren. Sie schaute mich erstaunt an und schrie mich gleichsam an: "Machen Sie alles, ich will doch leben, was glauben Sie denn"! Die vorliegende Verfügung war 19 Tage davor unterschrieben und vom Hausarzt gegengezeichnet worden. Soviel zur realen Zuverlässigkeit von juristischen Formalia. Welche Sicherheit geben sie im Einzelfall?

Wir vergessen in der ganzen Diskussion um die Autonomie des Patienten, daß auch der Arzt autonom und selbstbestimmt ist. Ich kann also als Patient dem Arzt nicht vorschreiben, was er zu tun hat, ebensowenig, wie der Arzt dem Patienten etwas vorschreiben kann. Die Gewissensfreiheit hat auch der Arzt. Und ich denke, die sollten wir nicht so leicht übergehen. Ein Testament verfügt über Dinge. Eine Patientenverfügung bedeutet einen ethischen Qualitätssprung: Ich verfüge über mich, aber ich bin kein "Ding". Sie bedeutet letztendlich eine Selbstverdinglichung, eine Selbstversachlichung. Ich trete mit mir selbst, mit meinem Leben, mit meinem Leib in eine Art Vertragsverhältnis, ich verfüge darüber - lebe zumindest in der Illusion, es tun zu können. Das "Lohnen" einer Weiterbehandlung oder die Verweigerung wird implizit festgemacht am Haben oder Fehlen von bestimmten Eigenschaften (Bewußtsein, Beweglichkeit, Selbständigkeit und vieles andere mehr). Die Würde am Haben bestimmter Merkmale festmachen zu wollen, widerspricht dem Geist von Artikel I Grundgesetz; es offenbaren sich darin Elemente eines reduktionistischen Denkens.

Die Selbstverdinglichung, das versteckte Verständnis, die Verweigerung von Hilfe, sind Schritte, die unmerklich den Weg zur Euthanasie öffnen. Die alte Situation, die unter dem Begriff des Paternalismus läuft, war die: Der Arzt weiß, was für den Patienten gut ist. Mittlerweile ist die Medizin so kompliziert geworden, daß es immer schwieriger wird zu wissen, was richtig ist, gerade für diesen individuellen einzelnen Patienten - daher auch die Diskussion um die evidenzbasierte Medizin. Die paternalistische Haltung hat den Arzt überfordert. Wenn Sie die andere Haltung sehen, die Autonomie des Patienten, dann ist der Patient jetzt der Überforderte. Der Patient ist Kunde, sagt man. Ich habe schon oft Folgendes erlebt: Der Patient setzt sich an meinen Schreibtisch und fragt, Herr Doktor was bieten Sie mir an? Bieten Sie mir etwas Besseres an, als Ihre Kollegen? Das ist ein Aspekt des Kundenbegriffs! Patient als Kunde bedeutet aber auch, daß er nur solange Kunde ist, wie er Geld hat. Wenn er kein Geld mehr hat, wenn seine Kaufkraft erloschen ist, ist er kein Kunde mehr. Doch der Patient ist vielmehr ein hilfsbedürftiger Mitbürger, kein Kunde! Also: Die Kundendiskussion hat viele Dimensionen, die noch gut beleuchtet werden müssen. Eine davon ist, daß der Patient sich enorm belastet und selber wissen muß, was für ihn richtig ist. Das kann er aber prinzipiell nicht, erst recht nicht, wenn er bewußtlos ist.

Wenn Arzt und Patient autonom sind, wenn beide Würdenträger sind, im Sinne einer Beziehung, dann gibt es nur das Gespräch zwischen den beiden - das Gespräch im Sinne einer Fürsorge, die es nicht nur im Arzt-Patienten-Verhältnis gibt, sondern beispielsweise auch in der Eltern-Kind-Beziehung. Wenn wir an bewußtlose oder bewußtseinsgetrübte Menschen denken, entsteht eine Beziehung nicht ohne eine gewisse Empathie.

Juristische Formen

Ich meine: Der Arzt hat eine Fürsorgepflicht. Deshalb ist im jetzigen rechtlichen System - wenn überhaupt eine Festlegung notwendig ist - nur eine Form vertretbar: Die Vorsorgevollmacht. D.h. ich beauftrage einen Menschen meines Vertrauens, wenn ich nicht mehr für mich selbst sprechen kann, statt meiner mit dem Arzt zu sprechen. Es ist zwar dann die Stellvertretersituation vorhanden, die selbst ein Problem ist, aber ich habe wenigstens als Arzt einen Menschen mit dem ich diskutieren kann und als Patient einen Menschen, der mein Vertrauen genießt und meine Haltungen, meine Präferenzen, meine Lebenseinstellungen kennt. Als Arzt kann ich versuchen, einen Behandlungsweg mit dem Bevollmächtigten zu finden, immer in dem Bewußtsein, daß wir in dieser Situation fehlen können und auch fehlen werden. Fehlerfrei werden wir nie sein können, selbst wenn wir ein sehr enges Korsett von den Juristen bekommen würden.

Eine Patientenverfügung belastet den Patienten. Er belastet sich selbst. Die Patientenverfügung entlastet vor allem den Arzt, der Pontius Pilatus spielen kann. So öffnet sich, vom Patienten selbst induziert, ein Türchen für die Euthanasie. Viele schreiben das auch als Grund hin: "Wenn ich nicht mehr selbständig bin, wenn ich alt bin, wenn ich Windeln benötige, dann habe ich meine Würde verloren." Das ist dann schon ein Grund zu sagen, ich will keine Behandlung, weil sie keine Abhängigkeit wollen. Es gibt im deutschen Gesundheitssystem nichts besseres, als einen Patienten, der durch Selbstverweigerung Kosten spart. Damit habe ich als ethisch verantwortlicher Arzt ein Problem!

Im deutschen Gesundheitswesen - das im Moment leider von medizinischem Ökonomismus, Mißtrauen, Kontrolle und Reglementierung dominiert ist - wird schneller, als vielen Recht sein wird, folgende ganz andere Verfügung lebensnotwendig werden: "Falls ich in einen Zustand kommen sollte, in dem ich mich nicht mehr äußern kann, erwarte ich auf Grund des Grundgesetzes, daß das medizinisch Notwendige zur möglichen Erhaltung meines Lebens unternommen wird"! Sterbebegleitung ist Lebensbegleitung bis zum letzten Atemzug. Für mich hat die Begleitung auch des Menschen am Beatmungsgerät eine tiefe Qualität. Auch dort stirbt man den eigenen Tod. Deshalb stelle ich bewußt kein Beatmungsgerät ab.

Weil es immer wieder angesprochen wird, möchte ich zur indirekten Sterbehilfe Stellung nehmen. Diese Art der Sterbehilfe, auch "Doktrin des Doppeleffekts" genannt, nimmt den Tod als unbeabsichtigten, aber möglichen Nebeneffekt einer Schmerzmedikation in Kauf, deren Ziel eine schmerzlindernde Wirkung ist. Das ist eine oft praktizierte, juristisch übernommene Figur, die jedoch wiederum mit der Realität wenig zu tun hat. Unter der Voraussetzung einer lege artis durchgeführten Schmerztherapie, haben wir dem Patienten geholfen: Er ist dann nicht mehr eingeengt, oder gepresst, oder depressiv durch die Schmerzen, die ihn stören. Er ist befreit, kann unter Umständen nach Hause gehen, kann sich selbständig bewegen, und er lebt mit einer richtig gemachten Schmerztherapie meist länger als ohne. C. Saunders, Gründerin der Hospizbewegung, hält diese juristische Formulierung für Euthanasie durch die Hintertür: Studien aus dem St. Christopher's Heim haben bewiesen, daß eine richtig durchgeführte Schmerzmittelbehandlung den Todeseintritt nicht beschleunigt; indirekte Sterbehilfe sei schlechte Medizin. Das ist die Realität. Aus diesem Grund sehe ich diese juristische Figur äußerst kritisch, weil sie die gefährliche Türe zur Euthanasie öffnet. Wir stehen mit dieser Figur kurz davor: Der nächste Schritt (aktiv tötend eingreifend) ist dann so nahe, daß man diesen auch zulassen kann. Diese Figur ist in der Tat falsch; deshalb plädiere ich dafür, diese Figur nicht zu verwenden, denn sie induziert, wie die Patientenverfügung selbst, das nächste: die aktive Euthanasie. Diese lehne ich entschieden ab.


Literatur

Bavastro, P. (Hrsg.): Stuttgarter Gespräche Nr. 4, Autonomie und Individualität, Gefahren und Hintergründe der Patientenverfügung, Stuttgart 2003 in Druck

Bavastro, P.: Stuttgarter Gespräche Nr. 3, Individualität, Mensch und Technik, Stuttgart 2001

Bavastro, P.: Vorsorge-Vollmacht oder Patientenverfügung?, Bad Liebenzell 2001

Zieger, A., Bavastro, P., Holfelder, H.H., Dörner, K.: Patientenverfügungen: Kein Sterben in Würde, Deutsches Ärzteblatt 1999, Heft 14, 5. April 2002

Zieger, A., Bavastro, P., Holfelder, H.H., Dörner, K.: Sichern Patientenverfügungen ein Sterbenkönnen in Würde? Kritische Überlegungen aus beziehungsethischer Sicht. Intensiv 2002: 10: 223-235

Luyken, R.: Morphium und Nächstenliebe, Die Zeit, Nr. 16, 10.04.03, S. 42, Geänderte Fassung eines Vortrages, gehalten am 19.10.02 in Essen, Herrn Prof. K. Dörner in Dankbarkeit gewidmet.


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