Dezember 2006:

Washington setzt die NATO-Partner unter Druck

Beim NATO-Gipfel in Riga konnte sich die Regierung Bush mit der Forderung nach Truppenverstärkungen in Südafghanistan nicht durchsetzen. Aber Afghanistan ist nur das Vorspiel: Die NATO-Alliierten sollen Washington auch im Mittleren Osten - im Irak und gegen den Iran - 'beistehen'. Und gegen Rußland soll eine 'Energie-NATO' in Stellung gebracht werden.

Der NATO-Gipfel in Riga
Stichwort "Die Deutschen müssen das Töten lernen!" (siehe unten): Auf dem NATO-Gipfel in Riga, im Bild die Gastgeberin, die lettische Präsidentin Vaira Vike-Freiberga und NATO-Generalsekretär Jaap te Hoop Scheffer, konnten sich Amerikaner, Kanadier und Briten mit ihrer Forderung, die anderen sollten ebenfalls Kampftruppen in den Süden Afghanistans entsenden, nicht durchsetzen. Michael Liebig berichtet.

Was ist der globalstrategische Hintergrund des NATO-Gipfeltreffens, das am 28. und 29. November in Riga stattfand? Die Vereinigten Staaten (und Großbritannien) stehen im Irak "vor dem größten strategischen Desaster ihrer Geschichte", wie es General William Odom, der ehemalige Chef der National Security Agency (NSA), des größten der US-Geheimdienste, formulierte. Die Lage in Afghanistan ist ebenfalls katastrophal. Gleichzeitig stehen die USA vor einer Wirtschafts- und Finanzkrise, bei der sich die verschiedenen Krisenelemente - Immobiliencrash, Zahlungsbilanzdefizit, die gigantische innere Verschuldung und der Druck auf den Dollar - zusammenballen. Diese Existenzkrise soll einerseits möglichst lange verschleiert und zugleich einer "gesichtswahrenden Lösung" zugeführt werden.

Trotz vielfacher und gewichtiger Fraktionierungen ist man sich im amerikanischen "Establishment" darin einig, daß die faktische Großniederlage im Irak und ihre regionalen und internationalen Auswirkungen nicht zu einem "neuen Vietnam" führen darf, das die globale Führungsrolle der USA in Frage stellt. Führende Demokraten und Republikaner im US-Kongreß sind sich einig, daß die globale Handlungsfähigkeit der USA erhalten werden müsse. Für diesen "Konsens" haben Bush und die Republikaner einerseits wie die Demokratische Partei- und Kongreßführung andererseits "Konzessionen" gemacht: Die einen haben Donald Rumsfeld, die anderen den Kongreßabgeordneten John Murtha - den schärfsten demokratischen Kritiker der Regierung Bush - politisch abserviert.

Die Botschaft aus Washington an die NATO-Alliierten lautet deshalb: Wenn "wir" untergehen, gehen die gesamte NATO und "der Westen" als Ganzes unter. Deshalb müssen jetzt die NATO-Alliierten Washington politisch, militärisch und ökonomisch "beistehen" - angefangen in Afghanistan sowie im Nahen und Mittleren Osten. Wie Spiegel-online am 28. November berichtete, hat George W. Bush Bundeskanzlerin Merkel die entsprechenden Forderungen Mitte November - also nach den Kongreßwahlen - in einer Videokonferenz unterbreitet.

Im Spiegel vom 20. November ("Die Deutschen müssen das Töten lernen" - Wie Afghanistan zum Ernstfall wird) wird auch der frühere Präsidentschaftsberater Gen. Brent Scowcroft, der kein Neocon ist, mit dem Satz zitiert: "Scheitert die Allianz am Hindukusch, ,ist die NATO erledigt'." Ähnliches ist auch von Außenpolitikern der Demokraten wie Richard Holbrooke oder Madeleine Albright zu hören.

Im Vorfeld des NATO-Gipfeltreffens wurde auch von britischer Seite erheblicher Druck auf Deutschland ausgeübt, daß die Bundeswehr die NATO-Kräfte aus den USA, England, Kanada und den Niederlanden im Kampf gegen die sich verschärfenden "Taliban"-Aufstände in Südafghanistan verstärken müsse. Bundeskanzlerin Merkel und Außenminister Steinmeier haben vor dem Bundestag deutlich gemacht, Deutschland werde diesen Forderungen nicht nachkommen und weder Kampftruppen noch Personal für logistische Operationen entsenden. Vielmehr solle die NATO ihre Strategie in Südafghanistan, die fast ausschließlich auf Militäreinsätze konzentriert ist, überdenken.

Die realistischste Einschätzung der Lage in Afghanistan kommt von dem pakistanischen Außenminister Kasuri, der laut Daily Telegraph NATO-Vertretern sagte, ihr militärisches Vorgehen sei zwecklos und weitere Truppenverstärkungen sinnlos. Statt dessen müsse man eine politische Lösung finden, d.h. in Kabul eine Regierung der nationalen Einheit - einschließlich der Taliban - bilden.

In Interviews mit dem Radiosender Deutschlandfunk und der Süddeutschen Zeitung äußerte der Generalinspekteur der Bundeswehr, Gen. Wolfgang Schneiderhan: "Ich rate dringend davon ab, das ganze Thema reflexhaft auf die Frage zu reduzieren, ob wir 1000 Mann mehr im Süden brauchen. Unsere Herausforderung heißt, den zivilen Wiederaufbau militärisch konsequent abzusichern. Dazu muß den Menschen im Süden und im Osten vermittelt werden, daß die ISAF durch Wasser, Strom, Straßen und Schulen Zukunft bringt." Auf die vor allem von britischen Politikern geäußerten Vorwürfe, die Deutschen tränken Bier, während die britischen und kanadischen Soldaten im Kampf stürben, entgegnete Schneiderhan: "Das ist eine unverschämte Diskussion. Es läuft mir kalt den Rücken herunter, wenn man jetzt anfängt, die Leistung einzelner Nationen an der Zahl der Toten festzumachen. Schon jetzt sind im Süden und Osten 20 000 Mann eingesetzt. Und da will man mir ernsthaft einreden, daß 1000 Mann zusätzlich das Problem lösen?"

Nach Afghanistan kommt Irak

Kurz vor dem NATO-Gipfel sagte Präsident Bush, NATO-Truppen aus allen Mitgliedsländern müßten bereit sein, auch "schwierige Aufgaben" in Afghanistan zu übernehmen. Die NATO-Verbündeten müßten die Truppen bereitstellen, die die NATO-Kommandeure im Süden anforderten. Ähnlich der niederländische NATO-Generalsekretär de Hoop Scheffer: "So sehr wir Kampftruppen brauchen, die auch den Wiederaufbau absichern können, so wenig können wir uns Wiederaufbau-Armeen leisten, die nicht kämpfen können." Es sei "inakzeptabel", daß im Süden Afghanistans immer noch "20 Prozent der dort benötigten Soldaten fehlen". Entweder begegneten die NATO-Staaten "den Gefahren dort, wo sie auftauchen, oder wir werden sie an unsere Türschwelle geliefert bekommen". Ähnlich äußerte sich auch der britische Premier Tony Blair in Riga.

Diese Forderungen nach Entsendung zusätzlicher Kampfverbände in den Süden Afghanistans richteten sich neben Deutschland an die Regierungen Frankreichs, Spaniens, Italiens und anderer NATO-Staaten, die ihre Truppen ausdrücklich nicht für Militäroperationen in Südafghanistan bereitstellen. Auf dem NATO-Gipfel in Riga blieben diese Regierungen aber hart, außer in "akuten Notfällen" werden auch weiterhin keine Soldaten dieser NATO-Länder im Süden Afghanistans eingesetzt.

Obgleich in Riga den Forderungen bezüglich des Truppeneinsatzes in Südafghanistan nicht nachgegeben wurde, ist nicht davon auszugehen, daß der diesbezügliche Druck aus Washington - unterstützt von Großbritannien, Holland, Kanada und Polen - aufhören wird.

Und es geht keineswegs nur um Afghanistan: Bereits im Vorfeld des Rigaer NATO-Gipfels wurde Forderungen laut, die NATO müsse "globalisiert" werden - so vom Unterstaatssekretär im US-Außenministerium, Nicholas Burns. Die NATO müsse eine militärpolitische "Partnerschaft", einschließlich gemeinsamer Übungen, mit Japan, Australien, Südkorea und Neuseeland aufbauen.

Weit wichtiger sind die Forderungen aus Washington nach einer militärpolitischen Zusammenarbeit der NATO mit den arabischen Anrainerstaaten des Mittelmeeres, Israel und den Mitgliedstaaten des "Golf-Kooperationsrates" (GCC) - Saudi-Arabien, Kuwait, Quatar, Bahrein und Oman. Dies sind Nachbarländer des Irak und des Iran. Die GCC-Staaten sowie Ägypten und Jordanien sind als Kern des von Washington betriebenen Projekts einer "Sunni-Koalition" vorgesehen (siehe Seite 1 und Muriel Mirak-Weißbachs Artikel in Neue Solidarität Nr. 47-48/2006). Eine solche "Sunni-Koalition", in die London gern auch Syrien einbände, soll das Gegengewicht zum "schiitischen" Iran bilden und zugleich das strategische Vakuum füllen, das bei einem amerikanischen Abzug aus dem Irak entstünde. Das Sunni-Territorium eines faktisch, wenn auch nicht de jure geteilten Irak käme als weitere Komponente zur "Sunni-Koalition". Vor diesem Hintergrund muß man den jüngsten Besuch Dick Cheneys in Saudi-Arabien und Goerge Bushs Jordanien-Besuch unmittelbar nach dem NATO-Gipfel sehen.

Deutsche Militärfachleute erklärten gegenüber EIRNA, die Forderung "Deutsche Soldaten in den Süden!" sei nur ein "Vorspiel" auf Forderungen im kommenden Jahr, NATO-Truppen in den Irak zu entsenden. Die amerikanische und die britische Regierung hätten bereits "informell" gefordert, die "NATO Response Force" (NRF), die auf dem Rigaer NATO-Gipfel für "einsatzbereit" erklärt wurde, in den Irak zu entsenden, um einen "geordneten Abzug der amerikanischen und britischen Truppen aus dem Irak im Laufe des Jahres 2007 militärisch abzusichern." Den Deutschen sei gesagt worden, eine Verweigerung der Entsendung zusätzlicher NATO-Kräfte nach Afghanistan und später in den Irak hätte "verheerende strategische Konsequenzen für den Westen insgesamt." Der Experte sagte weiter, die Forderung nach einem Einsatz von NATO-Kräften im Irak werde auch von verschiedenen Demokraten im US-Kongreß unterstützt.

Ob das Projekt Washingtons einer gegen den Iran gerichteten "Sunni-Koalition" tatsächlich realisiert werden kann, ist mehr als fraglich. Gleichermaßen zweifelhaft ist, ob die kontinentaleuropäischen Staaten gezwungen werden können, NATO-Truppen in den Irak zu schicken, um im folgenden Jahr einen "geordneten Abzug aus dem Irak militärisch abzusichern." Außer Zweifel steht allerdings, daß Washington in diese Richtung erheblichen Druck ausüben wird.

Eine "Energie"-NATO

Druck wird es auch gegenüber Rußland geben, denn Washington will die politische und wirtschaftliche Kooperation Westeuropas mit dem wiedererstarkenden Rußland unterbinden. Das wurde im Umfeld des Rigaer NATO-Gipfels im Zusammenhang mit dem vom "zentristischen" republikanischen US-Senator Richard Lugar in Riga vorgestellten Projekt einer "Energie-NATO" sehr deutlich. Lugar nannte Rußland und Iran beim Namen, als er davon sprach, "Energie könnte die bevorzugte Waffe für die werden, die sie besitzen." Deshalb müsse sich die NATO gegen den Einsatz der "Energie-Waffe" schützen, die gefährlicher als militärische Waffensysteme sei.

"Die Deutschen müssen das Töten lernen"

Dieses Zitat auf der Titelseite des Spiegel vom 20. November bezieht sich auf den geforderten (und zum Glück zurückgewiesenen) Kampfeinsatz der Bundeswehr in Südafghanistan. Woher stammt dieser ominöse Satz? Karsten Voigt, der Beauftragte der Bundesregierung für die deutsch-amerikanischen Beziehungen, hörte ihn während seines USA-Besuchs Anfang Oktober von einem "Gesprächspartner aus der US-Administration", heißt es im Spiegel. Voigts Büro bestätigte gegenüber dieser Zeitung die US-Reise vom 2.-12. Oktober 2006 und auch das Zitat, das so "hohe Wellen geschlagen" habe. Nur den Namen des Washingtoner Gesprächspartners möchte Herr Voigt nicht preisgeben.


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