September 2004:
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Anne Marks-Rocke, die große Dame des deutschen Sprechtheaters

Anne Marks-Rocke
Nachruf: Viele Jahrzehnte lang vermittelte die gebürtige Mannheimerin Anne Marks-Rocke Publikum und Schauspielschülern "die Freude, durch Worte zu erzählen, durch Rhythmen etwas festzuhalten". Renate Müller-de Paoli berichtet.

Fünf Monate vor ihrem 103. Geburtstag ist Anne Marks-Rocke Anfang August in ihrer Eppendorfer Wohnung in Hamburg verstorben. Wer immer das Vergnügen hatte, sie in den letzten Jahren in dieser Wohnung noch besuchen zu dürfen, wie einige Mitglieder der Tell-Gruppe im Schiller-Institut, merkte sofort, wie der Funke von mehr als einem dreiviertel Jahrhundert Theaterarbeit und -erfahrung an den verschiedensten Bühnen in Deutschland, der Schweiz und sogar noch im hohen Alter in Rußland übersprang. Welches Glück wurde einem zuteil, an diesem Quellbrunnen teilhaben zu dürfen, zu erleben, wie sie großzügig von ihrer "Muttermilch", die sie eingesogen hatte, nämlich "der Freude, durch Worte zu erzählen, durch Rhythmen etwas festzuhalten", abgab!

Anne Marks-Rocke, am 7. Dezember 1901 in Mannheim geboren, bildete zusammen mit ihrem Mann Eduard Marks, welcher u.a. unter Gründgens in Hamburg spielte, viele bekannte Schauspieler und Sprecher aus. Beide entschlossen sich nach dem Zweiten Weltkrieg, in Hamburg eine Schauspielschule aufzubauen, später eine wichtige Keimzelle für den Fachbereich Schauspiel an der Hamburger Musikhochschule. "Dem Schludern und Nuscheln" wurde der Kampf angesagt. In einem Gespräch, das die Zeitschrift Ibykus im Juni 2000 mit ihr führte, antwortete sie mit ihren fast 99 Jahren auf die Frage, welche Schwerpunkte den Schülern zu vermitteln versucht habe:

Man guckt sich an, wer da kommt. Was redet der, was will er spielen? Wen hat er gesehen? Was ist sein Urbild? Dann probiert man ein bißchen. Manchmal sind die Wünsche etwas verwegen und auch nicht ganz richtig. Aber sie sind dann glücklich, wenn man sie auf eine Bahn führt, wo das Äußere und das Innere stimmt. Nicht jeder ist ein Held, nicht jeder ist ein Chargenspieler. Alles ist verschieden. Und dann holt man es, weckt es, die Freude daran -

Man vermittelt zuerst einen Zustand, eine Situation. Was ist dieser Mensch, ist er traurig, hat er einen Verlust gehabt, oder ist er lustig, kommt er gerade von einer Gesellschaft? Was ist seine Grundstimmung? Das ist wie in der Musik eine Tonart. Er muß seinen Körper, seinen Puls darauf einstellen. Dann die Situation und die eigenen Hintergründe. Jeder hat ein anderes Bild, wenn er vom Wald oder vom Berg spricht. Das will übertragen werden, das möchte er leben, das will er loswerden. Und wenn man ihn dahin führt, daß er Visionen nicht nur als Kenntnisse kennt, sondern als Lebensluft, auf der Bühne in ein Lebensschicksal hineingeht. Also, eine schöne Arbeit, aber eine lange Arbeit, die hört nie auf. Immer wieder kommt eine neue Erkenntnis. Das ist ein schöner Beruf, ich möchte keinen anderen haben.

200 Jahre Theatertradition in der Familie

Doch zunächst wollte die junge Anne der 200 Jahre alten Theatertradition in ihrer Familie, die sie als "bürgerliche" Welt empfand, entfliehen. Sie wollte die wissenschaftliche Laufbahn einschlagen und bei Curtius Archäologie studieren, doch der "Theatervirus" erfaßte auch sie:

Ja, das Theater erschien mir das bürgerlichste, was es überhaupt gibt. Mein Vater war ein Kaufmann, aber der Sohn von zwei Theaterleuten. Mein Großvater war noch ein persönlicher Gesangsschüler von Albert Lortzing. Der hat einen Abend Shakespeare gespielt und den anderen Abend den Tamino gesungen. Er war Schauspieler und Sänger. Das gibt es heute gar nicht mehr. Und meine Großmutter, die Polyxena - Polly - da hat mich der Albert Bassermann noch angesprochen: "Sind Sie verwandt mit der Frau Rocke in Mannheim?" - Das ist meine Mutter. - "Nein, das kann nicht sein, das war eine gute Schauspielerin, eine komische Alte, ach..." - und hat mir von meiner Großmutter vorgeschwärmt.

Sie war sehr beliebt. Die Mannheimer, die sind mit ihrem Theater sehr verbunden. Wenn meine Mutter oder meine Großmutter über den Markt gingen: "Ah, Frau Rocke, kommen Sie mal her. Ich war gestern im Theater. Sie waren sehr gut. Hier, haben Sie Petersilie!" Man war anerkannt bei den Leuten, man bekam etwas geschenkt. Der Mannheimer geht ins Theater, und wenn es im vierten Rang ist. Die Stände waren sehr streng getrennt. Die feinen Leute hatten den ersten Rang und die Logen. Unten im Parkett hat sich's gemischt. Je höher die Ränge wurden, je einfacher, aber begeisterter waren die Zuschauer.

Begeistert war das Publikum in Hamburg, als Anne Marks-Rocke im April 1997, im Alter von 96 Jahren, ihr schauspielerisches Können in der szenischen Lesung des Stückes Kaiserin Eugenie von Jason Lindsey zeigte. Dieses Solostück von zwei Stunden, in dem sie alles auswendig vortrug, schildert das Leben der 94jährigen Kaiserin Eugenie, der Frau Napoleons III (1808-1873). Anne Marks-Rocke war 19 Jahre alt, als Eugenie 1920 starb.

Eine Rolle wie für sie "auf den Leib geschrieben", in der sie in so unglaublicher Weise verstand, "in dieses Lebensschicksal hineinzugehen".

Auch ihr Leben war von vielen "Aufs" und "Abs" bestimmt. Zwei grausame Weltkriege mußte sie durchleben. Immer wieder lenkte sie Besucher auf ein Bild, das ihr sehr am Herzen lag - eine Photographie des Denkmals von Friedrich Schiller vor dem Theater in ihrer Geburtsstadt Mannheim. Das Theater liegt in Trümmern, doch wie ein Wunder erhebt sich die Schiller-Statue völlig unberührt von dem Bombenhagel darüber hinweg.

Und sie genoß stets aufs Neue die ersten Theaterabende nach dem Krieg, wenn sie erzählte: "Ach, das waren herrliche Abende! Wir saßen mit Mänteln und Pelzen, mit Decken und Handschuhen im unbeheizten Theater und tranken das lang Entbehrte in uns hinein. Es war himmlisch!"

"Himmlisch" war es, wenn sie auf Bitten Gedichte rezitierte, ob lyrische oder Balladen wie Goethes Zauberlehrling oder den Chor der Erinnyen aus Schillers Die Kraniche des Ibykus. Und dieser große Moment, wenn sie ihr Lieblingsgedicht Selige Sehnsucht aus Goethes West-östlichem Divan sprach:

Da war "Lebensluft" zu spüren und zu atmen! Anne Marks-Rocke hatte dieses "Stirb und werde!" Deshalb betonte sie in der Schönheit, Weisheit und Gelassenheit ihres Alters immer und immer wieder: "Die Kunst war immer Arbeit, Verpflichtung, Auseinandersetzung, immer Schwierigkeit, immer ein gewisser Kampf. Den lieben wir schon seit 200 Jahren. Mit etwas fertig zu werden, es zu meistern, das macht Spaß"!

Sie lebte und genoß es unvergessen fast 103 Jahre lang.


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