| November 2001: |
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Horst Eberhard Richter, Der Gotteskomplex - "Es [das Buch] ist ein Generalangriff auf die schöne Menschheitsepoche der Renaissance, ... als das Christentum ein weiteres Mal mit Grundgedanken der platonischen Philosophie verschmolz und nach finsterer Zeit endlich wieder von Freiheit die Rede war."
Richter ein "Guru" der sexuellen Befreiung und Umerziehung; zu schlimm um übersehen zu werden!
"Aus der Geschichte erst werden Sie lernen, einen Wert auf die Güter zu legen, denen Gewohnheit und unangefochtener Besitz so gern unsre Dankbarkeit rauben... Und welcher unter Ihnen... könnte dieser hohen Verpflichtung eingedenk sein, ohne daß sich ein stiller Wunsch in ihm regte, an das kommende Geschlecht die Schuld zu entrichten, die er dem vergangenen nicht mehr abtragen kann? Ein edles Verlangen muß in uns entglühen, zu dem reichen Vermächtnis von Wahrheit, Sittlichkeit und Freiheit, das wir von der Vorwelt überkamen und reich vermehrt an die Folgewelt wieder abgeben müssen, auch aus unseren Mitteln einen Beitrag zu legen, und an dieser unvergänglichen Kette, die durch alle Menschengeschlechter sich windet, unser fliehendes Dasein zu befestigen."
Hier steckt nun vieles drin, nicht nur der Gedanke, daß wir ohne Überlieferung, ohne Tradition wurzellos wären, sondern auch der Gedanke des großen Bildungsreformers Wilhelm von Humboldt, den dieser selbstverständlich mit seinem Dichterfreunde Schiller teilte: daß Bildung und Erziehung darin bestehe, den einzelnen Menschen mit der Menschheit zu verknüpfen, weil erst diese Verknüpfung den Menschen eigentlich zum Menschen werden läßt. Dies betrifft auch den wesentlichen Unterschied zwischen Mensch und Tier. Tiere haben Emotionen, Erinnerungsvermögen, sie können praktische Informationen austauschen und manchmal ihren Nachkommen sogar bestimmte Fertigkeiten beibringen, aber was ihnen fehlt, ist das Vermögen, sich über Ideen zu verständigen oder diese in schriftlicher Form zu konservieren und viele Jahrhunderte später wieder lebendig werden zu lassen. Und dies nennen wir Kultur.
Außerdem will Schiller seine Studenten für den Wunsch begeistern, irgendwann selbst etwas Wertvolles zur Weiterentwicklung der Menschheit beizutragen, sei es nun auf dem Felde der Wissenschaft, der Kunst oder in anderer Hinsicht. Der dem einzelnen Menschen mitgegebene "Götterfunken", die Fähigkeit des schöpferischen Denkens, soll zur Veränderung und Höherentwicklung der menschlichen Gesellschaft gebraucht werden. Wie überall in Schillers Welt schwingt auch hier der Renaissancegedanke vom schöpferischen Menschen als Abbild des Schöpfers mit, den wir von Nikolaus von Kues und Leibniz kennen, und den Schiller als junger Mann in seiner Dissertation so formuliert hat:
"Der Mensch ist da, daß er nachringe der Größe seines Schöpfers, mit ebendem Blick umfasse die Welt, wie der Schöpfer sie umfaßt - Gottgleichheit ist die Bestimmung des Menschen. Unendlich zwar ist dies sein Ideal: aber der Geist ist ewig. Ewigkeit ist das Maß der Unendlichkeit, das heißt, er wird ewig wachsen, aber es niemals erreichen."3
Dem kann man nur zustimmen. Doch das Problem, die Ursache für diesen Betrug, geht weit über Bestrebungen zur Ökonomisierung der Bildung hinaus. Die Bildungsreformen der 70er Jahre, bei denen ein Großteil der Literatur und Geschichte als unnötiger "Bildungsballast" abgeworfen wurde, und deren traurige Ergebnisse wir heute beklagen, sind nicht bloß eine Folge des Dranges zu mehr "Leistung und Effizienz". Vieles wurde einfach deshalb als "Ballast" deklariert, weil man es aus ideologischen Gründen ablehnte und loswerden wollte!
Ein Beispiel ist Schillers Menschenbild, wie es in dem angeführten Zitat über Universalgeschichte zum Ausdruck kommt. Genau diese Idee, das "fliehende Dasein" des einzelnen Menschen aus dem weiten Winkel der Menschheitsgeschichte zu betrachten, war ja vielen Ideologen der Bildungsreform und des "Wertewandels" der 70er Jahre ein Dorn im Auge. Einer dieser Ideologen ist Prof. Horst-Eberhard Richter, der in diesem Ungeist zahlreiche Bücher verfaßte, etwa über "antiautoriäre Erziehung" oder über "die Gruppe" als Alternative zur Kleinfamilie. In der Pädagogik wandte er sich gegen die "Verkopfung der Gesellschaft" und überhaupt gegen alle "Größenideen". Statt dessen widmete er sich der "psychoanalytischen Begleitung" von Eltern-Kind-Gruppen bei deren "Versuchen zur sexuellen Emanzipation" und "Experimenten mit der Aggression". Von der humanistischen Idee der Selbstvervollkommnung hielt er nichts, sondern forderte "eine Umerziehung zu einer neuen Art Mut..., sich als unvollkommen zu akzeptieren, sich mit der eigenen Schwäche auszusöhnen, anstatt sie als 'inneren Schweinehund' zu bekämpfen".4
Der Bekämpfung der Idee des Fortschritts und der christlichen Renaissanceidee des schöpferischen Menschen als lebendiges Abbild des Schöpfers widmete Horst-Eberhard Richter 1979 sogar ein ganzes Buch mit dem Titel Der Gotteskomplex. Es ist ein Generalangriff auf die schöne Menschheitsepoche der Renaissance, die Zeit eines Dante Alighieri, Nikolaus von Kues oder Leonardo da Vinci, als das Christentum ein weiteres Mal mit Grundgedanken der platonischen Philosophie verschmolz und nach finsterer Zeit endlich wieder von Freiheit die Rede war. Gleich im ersten Teil schreibt Richter:
"Der lange Zeit als großartige Selbstbefreiung gepriesene Schritt des mittelalterlichen Menschen in die Neuzeit war im Grunde eine neurotische Flucht aus narzißtischer Ohnmacht in die Illusion narzißtischer Allmacht. Der psychische Hintergrund unserer so imposant erscheinenden neueren Zivilisation ist nichts anderes als ein von tiefen unbewältigten Ängsten genährter infantiler Größenwahn."5
Darüber, daß Richter den wissenschaftlich-technischen Fortschritt pauschal als "kollektiven Selbstzerstörungsprozeß" brandmarkt, könnte man noch hinwegsehen, weil damals so gut wie jeder Guru vom Club of Rome abwärts in dieses Horn blies. Aber er richtet seine vulgärpsychologischen Geschütze zielgenau auf Schillers Idee der Universalgeschichte, die dem individuellen menschlichen Leben Tiefe gibt, nämlich eine Vergangenheit, in der es wurzelt, und eine Zukunft, die auf seine schöpferischen Beiträge wartet. Bei Horst-Eberhard Richter wird diese Idee banalisiert und persifliert:
"Nun steckt in dem traditionellen Fortschrittsglauben das Angebot einer fiktiven Tröstung für die Erfahrung der absteigenden Fitness-Kurve und des Sterbens. Der einzelne könnte sich sagen: Ich selbst, meine Generation und die vorhergehenden sind zwar noch nicht zu einer endlosen Streckung der Lebenszeit und zur dauerhaften Erhaltung einer großartigen Potenz in der Lage bzw. in der Lage gewesen. Aber jede Generation trägt dazu bei, dieses Ziel näher zu rücken. Und irgendwann in der Zukunft werden es unsere Enkel erreicht haben... Gewissermaßen auf den Schultern unserer Generation wird die nächste oder die übernächste die Früchte der Forschung aller vorhergehenden Generationen ernten. Es gäbe dann doch, auf das Ganze der Zivilisation bezogen, jene Entwicklungslinie eines permanenten Höher-Hinauf in die Unendlichkeit. Und der einzelne könnte sich zum Trost dafür, daß er selbst im Widerspruch zum Omnipotenzideal kaputtgehen muß, sagen, daß er wenigstens indirekt auch an jener permanent aufsteigenden Kurve der Menschheit teilnimmt, die sein individuelles Leben überformt."6 Das sei allerdings eine "Fata Morgana". Und die Vorstellung von Leibniz und Schiller vom Menschen als "kleinem Gott", der an der Weiterentwicklung der Schöpfung teilnehmen soll, bekommt Richters vulgärpsychologische Diagnose: "Gotteskomplex".
Es geht hier aber nicht darum, Horst-Eberhard Richter und seine inzwischen auch schon recht verstaubten Bücher zu attackieren. Es geht vielmehr um die lange überfällige Debatte über die Bildungsidee, die bei all diesen Reformen und Entrümpelungsaktionen der Fächerkanons verloren gegangen ist. Wie wird man ein Mensch? Was gehört alles dazu? Wie können wir uns darüber beklagen, daß unsere Kinder nicht schöpferisch denken lernen, wenn wir ihnen - aus welchen religiösen oder areligiösen Gründen auch immer - den Begriff des "Schöpfers" vorenthalten? Oder was meint Lessing, wenn er sagt: "Gott gibt uns die Seele, aber das Genie müssen wir durch die Erziehung bekommen." - Ach, pardon, wie konnten wir von "Seele" reden? Die ist ja auch längst passé, Ballast von vorgestern.
Und wenn wir nun schon einmal dabei sind: Warum ist bei alledem eigentlich so wenig davon zu hören, wie die Jugendlichen selbst auf die sträfliche Unterschlagung ihrer kostbaren Kultur reagieren - von den in der PISA-Studie dokumentierten miserablen Leistungen einmal abgesehen? Nein, die Kinder unserer Dschungelwelt werden wohl kaum öffentlich die "Seelenlosigkeit unserer Gesellschaft" beweinen oder untertänigste Bittgesuche an die Kultusministerkonferenz einreichen, die Damen und Herren möchten doch bitte 1-2 klassische Gedichte pro Jahr in den Deutschlehrplan aufnehmen.
Es wird wohl ganz anders kommen. Was wäre, wenn die jungen Leute sich die seit Jahrzehnten aus den Lehrplänen verbannte Literatur einfach selbst wieder aus den Bibliotheken oder dem Internet hervorholten? Einige Beherzte fangen damit an, andere werden folgen, und der Anfang des neuen Jahrtausends bekäme eine neue "Gegenkultur". Aber diesmal keine Aggressions-Bedröhnung oder selbstdestruktive Grufti-Romantik! Vielmehr wird die neue Gegenkultur notwendigerweise auf Veränderung dieser heruntergekommenen Gesellschaft ausgerichtet und daher klassisch sein.
1. Die Zeit Nr. 42/2002.
2. Friedrich Schiller, "Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?" Sämtliche Werke, Bd. IV, Historische Schriften, Winkler, München, S. 720.
3. Friedrich Schiller, "Philosophie der Physiologie", Sämtliche Werke, Bd. V, Philosophische und vermischte Schriften, Winkler, München, S. 14.
4. Horst Eberhard Richter, Der Gotteskomplex, Rowohlt 1979, S. 148; und Die Gruppe, Rowohlt 1978.
5. Gotteskomplex, S.29.
6. Ebenda, S. 231.
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