| Oktober 2004: (Teil 1) |
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Das Logo Baden-Württembergs anläßlich seines 50-jährigen Bestehens. Es wurden gutgemeinte Werbesendungen ausgestrahlt mit dem Spruch: "Wir können alles außer Hochdeutsch". Wie es um unsere Sprache wirklich bestellt ist, hat Rosa Tennenbaum in der folgenden dreiteiligen Dokumentation zusammengetragen.
Deutsch ist uns fremd geworden, so fremd, daß einige Werke unserer großen Dichter wie Schiller und Goethe seit kurzem in einer Übersetzung ins Neudeutsche vorliegen (siehe Kasten). Das sprachliche Niveau und die Lesefähigkeit der Schüler - vor allem in den Haupt- und Realschulen - sei so gering, daß die Lehrer wenig oder gar kein Interesse für klassische Texte wecken könnten, erklärt der Verlag Cornelsen, der diese Umarbeitungen verbreitet. Jugendliche könnten die Sprache der Klassiker nicht mehr verstehen, und bevor sie die klassischen Werke gar nicht mehr läsen, sei es besser, sie ihrer Sprache anzugleichen. Der geistige Anspruch der Texte ist für uns heute offenbar zu hoch, deshalb werden sie umgeschrieben.
Das macht uns auf einen Schlag deutlich, wie sehr sich unsere Sprache verändert haben muß. Nicht nur die der Jugend, das Deutsche hat sich grundsätzlich gewandelt. Unsere Rede ist im Inhalt und in der Aussage ganz anders geworden. Aber ist das überhaupt der Rede wert? Die Hauptsache ist, daß wir verstehen, was gemeint ist. Aber verstehen wir es denn? Ein einfaches Beispiel: der Bindestrich. Kaum ein Satz, in dem es ihn nicht gibt, denn angeblich kann man mit ihm die Aussage so schön verkürzen.
Die Schröder-Rede bezeichnet des Bundeskanzlers Rede vor irgendeiner Versammlung, die Bush-Regierung aber nicht Bushs Regierung, denn er ist offenbar nicht Herr derselben. Hier ist der Ausdruck wohl eher als ein Name zu verstehen, den man besser mit die Regierung Bush umschriebe. Das Kita-Volksbegehren, für das zur Zeit in Berlin-Spandau Unterschriften gesammelt werden, ist eine Initiative für die Kitas, wohingegen der Irak-Krieg ein Krieg ist, der gegen dieses Land geführt wird. Ob Genitiv oder Akkusativ, aktive oder passive Form, wir greifen schematisch zum Bindestrich, und verlassen uns darauf, daß die anderen es schon "irgendwie" richtig deuten werden.
Wir verstehen es nicht, das zeitgenössische Deutsch, weil es nicht zu verstehen ist. Unser Sprachgebrauch ist unpräzise geworden, unser Ausdruck schludrig. Das Wörtchen "irgendwie", das wir so häufig im Mund führen, ist zu einem Charakteristikum unseres Sprachgebrauchs geworden. "Irgendwie" hängen wir die Wörter zu Sätzen aneinander, die "irgendwie" mehr oder - immer öfter - weniger Sinn ergeben, der dann hoffentlich "irgendwie" verstanden wird.
Wörter sind gleichzeitig ein musikalisches und ein geometrisches Abbild der Dinge, die sie bezeichnen, sie sind der Mittler zwischen dem Objekt und der Idee. Ein Wort ist "ein Wesen mit durchaus eigener Natur, ...[das] durch eine sinnliche, der Natur abgeborgte Form eine Idee möglich macht, die außer aller Natur ist," schreibt Wilhelm von Humboldt in seinem Aufsatz Latium und Hellas1. Wir können z.B. eine Rose nicht direkt in unseren Geist aufnehmen, nur ihr Abbild, das außerhalb der Natur im Reich der Ideen liegt. Dieses Abbild wird nun zum Objekt des Gedankens, zum "Gedankending", wie Lyndon LaRouche es nennt. Wenn wir die Idee einer Rose jemandem mitteilen wollen, formen wir ihr Bild über musikalische Töne in ein Wort.
Dabei wird sich jeder, der das Wort Rose hört, eine konkret andere Blume vorstellen, unterschiedlich hinsichtlich ihrer Farbe, ihrer Sorte, ihres Entwicklungsstandes. Trotzdem ist es immer eine Rose. Das Wort löst in unserem Geist eine ganze Reihe von Vorstellungen aus, die gleich und doch völlig verschieden sind, Empfindungen und Erinnerungen knüpfen sich an diesen Begriff. "Alle verschiedenen Begriffe und Bilder derselben, alle Empfindungen, die sich an ihre Wahrnehmung anreihen, alles endlich, was nur irgend mit ihr in und außer uns in Verbindung steht, kann sich auf einmal dem Geiste darstellen2", wenn wir ein Wort hören. Wörter sind "Wesen [mit] einer durchaus eigenen Natur", sie sind Metaphern. Wie Platon unsere Auffassung der Welt als Schattenbilder der Wirklichkeit deutet, so sind Wörter deren Klang, der uns anregt, Vorstellungen in unserem Denken zu bilden, die weder konkrete Bilder noch reine Andeutungen sind.
"Sprache bezieht sich in erster Linie auf die Sinne des Sehens und des Hörens; insoweit die Sprache die Sinne anspricht, bezieht sie sich hauptsächlich auf diese beiden. Sehen ist Geometrie; Hören und Sprechen sind die Sprache der Musik. So rüstet uns die Sprache mit Sinnesmetaphern aus, mit deren Hilfe wir uns auf diejenigen Gedankendinge beziehen können, welche die schöpferische Vernunft betreffen, die wiederum den Menschen in die Lage versetzt, das Universum durch seine Arbeit zu beherrschen und so am Werk des Schöpfers mitzuwirken"3, definiert LaRouche die Wechselwirkung von sprechen, denken und handeln.
Goethe faßte das Wesen der Wörter und der Sprache in ein Gedicht:
"Es ist bekannt, daß die Sprache ein Spiegel des Verstandes, und daß die Völker, wenn sie den Verstand hoch schwingen, auch zugleich die Sprache wohl ausüben," meint Gottfried Wilhelm Leibniz in seiner Abhandlung Unvorgreifliche Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der deutschen Sprache4, in der er alle wesentlichen Ideen, die Wilhelm von Humboldt später ausführlich erörtern wird, darlegt. Angeblich reden wir Hochdeutsch, doch unsere heutige Redeweise läßt nicht darauf schließen, daß wir unseren Geist hoch schwingen, im Gegenteil, sie deutet auf eine heillose Verwirrung im Denken.
Sprache ist ein musikalisches und geometrisches Abbild der Welt, sie ist keine Konvention. Begriffe sind keine Etiketten, die auf die Sachen geklebt werden. Jedes Ding hat seine eigene Wesenhaftigkeit, die unabhängig von äußerer Einwirkung besteht und die vom Wort ergriffen und über den Klang in unserer Vorstellung musikalisch abgebildet wird. Damit wir uns genau das vorstellen können, was mit einem Wort gemeint ist, muß die Abbildung wahrheitsgemäß sein, der Widerhall, den das Wort in unserem Denken auslöst, muß das Wesen der Sache ergreifen wie z.B.: Menschenliebe, Blutbahn, Wohlklang, schöpferisch.
Miteinander sprechen weckt das Verständnis des Hörenden, denn wir können nur verstehen, was wir auch selbst hätten sagen können. Gleichzeitig werden wir angeregt, uns in die Ideenwelt des Sprechenden hineinzuversetzen und uns seine Gedanken anzueignen. Sprache ist also der "Spiegel des Verstandes", wie Leibniz sagt, weil wir nur sagen können, was wir auch zu denken in der Lage sind; sie ist aber auch das "bildende Organ des Verstandes," wie Humboldt es ausdrückt, weil sie unsere geistige Tätigkeit entzündet.
Jede Sprache wird durch ihre jeweilige Grammatik bestimmt, die Wortbildung, Satzbau und Lautgesetze festlegt. Sie spiegelt die geistigen Kräfte einer Sprachgemeinschaft, ihre Art des Denkens, ihre Ansicht der Welt wider. Durch den grammatischen Bau wird deutlich, wie ein Gedanke aus den verschiedenen Lauten zusammengesetzt wird; er bestimmt, was in der Sprache festgelegt ist und was sich der Hörende selbst zusammenreimen muß.
Das Charakteristische an allen lebenden Sprachen ist Veränderung, die Sprache befindet sich in einem dauernden Prozeß des Werdens und Entwickelns. Die Wandlung unserer Sprache ist nicht der Stein des Anstoßes, sondern die Richtung, in die dieser Prozeß weist.
Die offizielle Sprache des Landes Ozeanien ist die Neusprache. Ein Heer von Menschen ist dauernd damit beschäftigt, die Wörter von allen Nebenbedeutungen zu reinigen, um alles ungewollte Denken auszuschalten. Metaphern sind gefährlich, das hatte zuvor schon John Locke erkannt. Wenn erst die Neusprache von der Bevölkerung akzeptiert und die Erinnerung an die alte Sprache ausgelöscht sein wird, wird ein abweichender Gedanke gar nicht mehr gedacht werden, weil er nicht mehr ausgedrückt werden kann.
Der Wortschatz ist sehr eingeschränkt und so konstruiert, daß alle unnötigen Wortschattierungen ausgeschlossen sind. Das Wort frei gibt es zwar noch, aber nur in der Bedeutung frei von Unkraut, frei von Schmerzen, nicht mehr in dem Sinne geistig frei oder politisch frei.
Der Wortschatz ist in drei Gruppen eingeteilt: Wortschatz A bezeichnet die Wörter des täglichen Lebens wie essen, arbeiten, kochen.
Wortschatz B wird durch Wörter, die absichtlich zu politischen Zwecken gebildet wurden, bestimmt. Sie sollen den Benutzer in die gewünschte Geistesverfassung versetzen. Sie sind eine Art Stenographie, mit der man eine ganze Gedankenkette in ein paar Silben zusammenfassen kann. Gutdenk bedeutet korrekte politische Haltung, das, was wir seit einigen Jahren mit dem Begriff "political correctness" umschreiben, Undenk benennt einen Bruch des politisch und sozial Anerkannten. Oft bedeuten die Wörter genau das Gegenteil von dem, was sie zu meinen scheinen. Minipax ist der Begriff für das Friedens- oder besser das Kriegsministerium, Miniwahr für das Wahrheitsministerium, das u.a. das Heer der Sprachreiniger beschäftigt und beaufsichtigt.
Abkürzungen werden, wo immer möglich, verwandt, nicht nur, weil sie kürzer sind, sondern weil die ursprüngliche Bedeutung abgeschwächt und langsam in das genaue Gegenteil verkehrt werden kann. Die Assoziationen, die das Wort Miniwahr hervorruft, sind einfacher zu kontrollieren als die des Wortes Wahrheitsministerium.
Der Wortschatz C besteht aus den wenigen wissenschaftlichen und technischen Begriffen, die noch gebraucht werden.
Die Grammatik ist sehr einfach. Es gibt eigentlich keine Wortarten mehr; jedes Wort kann Verb, Substantiv, Adjektiv oder Adverb sein. Es kann durch die Vorsilbe un- ins Gegenteil verkehrt und durch "plus" oder "doppelplus" gesteigert werden. Unkalt heißt warm, pluskalt sehr kalt und doppelplusunkalt unerträglich warm. Die Zeiten sind auf Perfekt und Imperfekt begrenzt und werden immer mit der Nachsilbe -te gebildet. Aus denken wird denkte, aus lesen leste.
Neuprache:
schreiben, schreibte, geschreibt
Orwell beschreibt in seinem Buch, wie die Neusprache das Denken verändert:
Mit dem Jahr 2050 wird jede wirkliche Kenntnis der Altsprache verschwunden sein. Die gesamte Literatur der Vergangenheit wird vernichtet worden sein. Chaucer, Shakespeare, Milton, Byron werden nur noch in Neusprachfassungen vorhanden sein, und damit nicht einfach umgewandelt, sondern zu dem Gegenteil von dem verkehrt, was sie waren. Selbst die Parteiliteratur wird eine Wandlung erfahren. Sogar die Leitsätze werden anders lauten. Wie könnte ein Leitsatz wie ,Freiheit ist Sklaverei' bestehen bleiben, wenn der Begriff Freiheit aufgehoben ist? Das ganze Reich des Denkens wird anders sein. Es wird überhaupt kein Denken mehr geben - wenigstens, was wir heute darunter verstehen. Strenggläubigkeit bedeutet: nicht mehr denken - nicht mehr zu denken brauchen. Strenggläubigkeit ist Unkenntnis."5
Basic English war keine abstrakte Idee, es sollte die internationale Sprache werden. Es bot den Vorteil, daß es keine erfundene Sprache war wie Esperanto, sondern sich aus einer Weltsprache herleitete, die ohnehin schon über eine relativ einfache Grammatik verfügte (nur wenige Deklinations- und Konjugationsendungen). Diese wurde nun weiter vereinfacht und eingeschränkt. Der damalige britische Premierminister Winston Churchill erkannte die Bedeutung, die Basic English in der Nachkriegsgeschichte für britische Interessen spielten könnte, und beauftragte im Jahr 1947 sein Erziehungsministerium, diese Pläne umzusetzen: Basic English sollte die Amtssprache auf der Insel und die internationale Verkehrssprache werden. Es war ein Programm, das verwirklicht werden sollte, und Orwell unterstützte diese Anstrengungen zeitweilig.
Damit wir einen Begriff bekommen, was Orwells Sprachreform bedeutet, sehen wir uns den Beginn der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung aus dem Jahre 1776 an:
Von dem Originaltext ist nichts übriggeblieben, ja, in der Neusprache wird das genaue Gegenteil daraus. Aus der Unabhängigkeitserklärung wird in Neusprache eine Hymne auf die Tyrannei. Orwell selbst sagte, daß die einzig mögliche Übersetzung der Unabhängigkeitserklärung in Neusprache wäre, sie in dem einen Wort Denkverbrechen zusammenzufassen. Indem man die Sprache verändert, verwandelt man Ideen in das Gegenteil dessen, was sie waren, man verändert die Denkstrukturen.
Alle modernen Sprachen entwickeln sich in diese Richtung. Der Wortschatz ändert sich rasant, grammatische Regeln werden vereinfacht, viele werden überhaupt nicht mehr angewandt. So werden im zeitgenössischen Englisch Verben bevorzugt in der Verlaufsform benutzt, wie im Basic English gefordert, und im Umgangsdeutschen kommt man mit nur zwei Zeiten aus: Präsens und Perfekt (im Hessischen z.B. sind es Präsens und Plusquamperfekt).
Fortsetzung folgt
Anmerkungen
1. Wilhelm von Humboldt, Latium und Hellas oder Betrachtungen über das klassische Altertum, in Werke in fünf Bänden, Hrsg. von Andreas Flitner und Klaus Giel, Stuttgart 1979. Bd. 2, S. 62ff.
2. Humboldt, a.a.O., S. 62.
3. Lyndon LaRouche, So streng wie frei. Gesetzmäßigkeiten schöpferischen Denkens in Wissenschaft und Kunst, Dr. Böttiger-Verlag, Wiesbaden 1994, S. 70.
4. Gottfried Wilhelm Leibniz, Unvorgreifliche Gedanken betreffend die Ausübung und Verbesserung der deutschen Sprache. Zwei Aufsätze. Hrsg. von Uwe Pörksen, Stuttgart, 1983, S. 5.
5. George Orwell, 1984. Erster Teil, 5. Kapitel.
6. Anthony Burgess, 1985, München 1982, S. 59.
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