Mai 2002:
Pfad:> Partei BüSo> BüSo Baden-Württemberg> Politik in BW> Archiv


Entwicklungen im Bereich der Heilmittel seit 1996

Gesundheitsbroschüre der BüSo Eine Ausgabe der Themenhefte, die zu tausenden in der Bundesrepublik verteilt wurden und die auf die Problematik im Gesundheitsbereich aufmerksam machte.

Die Autorin des Artikels, Regina Lauber, engagiert sich aktiv in gesundheitspolitischen Fragen. So richtete sie erst kürzlich ein Schreiben an die Bundestagsabgeordnete Monika Knoche, Mitglied des Gesundheitsausschusses, in dem sie auf die fatalen Folgen der neuen Heilmittelrichtlinien hinwies, die am 1.4.2001 in Kraft treten sollen. Vor allem die logopädische und phoniatrische Versorgung der vielen sprach-, sprech-, stimm- und schluckgestörten Patienten sei dann nicht mehr gesichert, ein Bereich, in dem es schon heute erhebliche Engpässe gebe.

Im Herbst 1996 wollte der damalige Gesundheitsminister Seehofer mit Hilfe des so genannten Beitragsentlastungsgesetzes den Krankenkassen die Möglichkeit geben, alle Heilmittel zu Gestaltungsleistungen in ihren Leistungskatalogen umzuwandeln. Ausnahmslos alle Krankenkassen hatten damals angekündigt, daß sie daraufhin - angesichts der knappen finanziellen Ressourcen - sämtliche Heilmittel aus ihren Leistungskatalogen heraus nehmen würden. Hätte damals nicht sofort ein großangelegter gutorganisierter und erfolgreicher Protest der Heilmittelverbände stattgefunden, hätten sich einschneidende Veränderungen im Gesundheitswesen ergeben. Die Proteste gipfelten am 3. Dezember 1996 in einer gemeinsamen Großdemonstration in Bonn, an der auch zahlreiche Patientenverbände und Patientengruppen teilnahmen.

Wer ist ein Heilmittelerbringer? Was sind Heilmittel? Was Gestaltungsleistungen?

Heilmittelerbringer sind Physiotherapeuten und -therapeutinnen, also Masseure, Masseurinnen, Krankengymnasten und -gymnastinnen, Ergotherapeuten und -therapeutinnen, Logopädinnen und Logopäden, und bald auch die Podologen, Fußpfleger, die sich das recht erstritten haben, Heilmittelerbringer zu sein. Heilmittel sind die Dienstleistungen die die vorgenannten Berufsgruppen erbringen. Im Gegensatz zu Heilpraktikern dürfen Heilmittelerbringer nur im Bereich von Vorbeugung und Beratung selbstständig arbeiten. Für eine therapeutische Arbeit sind sie von einer Ärztlichen Verordnung abhängig um ihren Beruf legal ausüben zu können.

Bei den Leistungskatalogen der gesetzlichen Krankenkassen handelt es sich um eine Auflistung aller Ärztlichen, therapeutischen Behandlungen und Untersuchungen sowie auch der Medikamente und von Hilfsmitteln wie z.B Gehhilfen oder Verbandsartikel. Bisher gab es relativ einheitliche Regelungen bei allen gesetzlichen Kassen über den Umfang der Kostenübernahme bei einer Erkrankung. Die Einführung von Gestaltungsleistungen hätte den Kassen ermöglicht, einzelne Leistungen freiwillig im Katalog zu belassen oder oder deren Umfang bis hin zur völligen Streichung der Kostenübernahme zu verändern.

Da bei uns in Deutschland die finanzielle Situation der Krankenkassen in direktem Zusammenhang mit der Beschäftigtenzahl steht, war leicht vorauszusehen, wie sich die Seehofer-Regelung in der Praxis auswirken würde. In Zeiten sinkender Konjunktur und hoher Arbeitslosenzahlen sinken zwangläufig auch die Einnahmen der Krankenkassen, was sie aus wirtschaftlichen und Konkurrenzgründen gezwungen hätte, die Heilmittelanwendungen nicht mehr zu finanzieren, wenn sie nicht mehr dazu verpflichtet sind. Die Folgen für Kranke sind nicht schwer vorzustellen. Viele chronisch Kranke können nur durch regelmäßige Heilmittelanwendungen ihre Arbeitskraft erhalten (und damit auch Versicherungsbeiträge einzahlen) oder eine vorzeitige Pflegebedürftigkeit verhindern, die dem sozialen System letztendlich sicher höhere Kosten verursachen würde.

Aber auch für die Heilmittelerbringer hätten sich zwingend drastische Veränderungen ihrer Arbeitsbedingungen ergeben. Nur zahlungskräftige Patienten oder Versicherte in manchen privaten Kassen hätten sich weiterhin Heilmittelbehandlungen leisten können. Das hätte das existentielle Aus für viele Inhaber kleiner Praxen, deren Angestellten aber auch der Angestellten in Akutkrankenhäusern, Rehabilitationseinrichtungen, Kurkliniken, Behinderten- und Frühfördereinrichtungen zur Folge gehabt. (Wieder mehr Arbeitslose und damit noch weniger Einnahmen für die Krankenkassen.)

Die Gesamtausgaben für Heilmittel haben damals etwa 2% der Gesundheitskosten ausgemacht. Es ging damals wohl nicht in erster Linie ums Sparen sondern es wurde meines Erachtens ein Versuchsballon gestartet, um festzustellen wie weit man bei den Versicherten und den Angeh?rigen der betroffenen Gesundheitsberufe gehen konnte.

Aufgrund der machtvollen Proteste ist die die CDU/CSU-FDP-Koalition von ihrem Vorhaben aberückt und hat den Dialog mit den Heilmittelverbänden gesucht. Minister Seehofer sicherte den Verbänden zu, daß die Heilmittel im Leistungskatalog verbleiben, wenn diese eine konstruktiven Beitrag zur Neuordnungsregelung und zur Erschließung von Wirtschaftlichkeitsreserven im gesamten Heilmittelbereich leisten werden. Innerhalb kurzer Zeit wurde unter maßgeblicher Beteiligung des Logopädenverbandes das so genannte Partnerschaftsmodell als Lösung entwickelt.

Diese sieht vor:

Die Neufassung des § 92 Sozialgesetzbuch (SGB) V. Der Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen hat neue Heilmittel-Richtlinien zu erstellen. Die Berufsverbände der Leistungserbringer hatten dabei kein Mitspracherecht - es wurde ihnen lediglich ein Anhörungsrecht eingeräumt.

Die Neufassung des § 125 SGB V. Die Berufsgruppen der Heilmittelverbände schließen mit den Spitzenverbänden der Krankenkassen einheitliche Rahmenempfehlungen ab. Die Leistungsbeschreibungen der jeweiligen Disziplinen gelten als Bestandteil dieser Empfehlungen. Der Ärzteschaft, vertreten durch die Kassenärtzliche Bundesvereinigung (KBV) wird das Recht zur Anhörung eingeräumt.

Im Bereich der Logopädie wurden Ende des Jahres 2000 die Heilmittel-Richtlinien mit dem Katalog "Maßnahmen der Stimm-, Sprech- und Sprachtherapie" freigegeben, die auf heftigsten Widerstand stieß. Denn nach dem Wortlaut der Abschlußfassung bestand die konkrete Gefahr, daß nur noch Fachärzte für Phoniatrie und Pädaudiologie logopädische Leistungen hätten veranlassen können. Dies hätte, aufgrund der geringen Anzahl an Phoniatern (durch lange Wartezeiten auf einen Termin) den Zusammenbruch der logopädischen Versorgung zur Folge gehabt. Dagegen wurde vom Logopädenverband mit großer Unterst?üzung der Mitglieder eine Beanstandung durch das Bundesministerium für Gesundheit durchgesetzt, so daß die Verordnungsberechtigung unmißverständlich für alle relevanten Facharztgruppen erhalten blieb. Dabei handelt es sich um Neurologen, Internisten, Hausärzte, HNO-Ärzte, Kinderärzte und auch Zahnärzte und Kieferorthopäden. Es gab noch zahlreiche weitere Einsprüche gegen die Neufassung der Heilmittel - Richtlinien, besonders auch gegen die Nichtaufnahme der logopädischen Diagnostik, die aber kein Gehör fanden.

Im Verlauf des Jahres 2001 wurden die Verhandlungen über "Gemeinsame Rahmenempfehlungen gemäß § 125 Abs. 1 SGB V über die einheitliche Versorgung"durchgeführt und abgeschlossen. Sie fanden zwischen der Bundesarbeitsgemeinschaft der Heilmittelverbände (BHV) und den Spitzenverbänden der Krankenkasen statt. Die Leistungsbeschreibungen der einzelnen Fachrichtungen wurden anschließend erstellt und mit den Krankenkassen-Verbänden verhandelt.

Im Frühjahr 2001 wurde die Leistungsbeschreibung Maßnahmen der Stimm-, Sprech- und Sprachtherapie zwischen den Spitzenverbänden der Krankenkassen und den Verbänden der Sprachtherapie Gegenstand der Vertragsberatungen. Die Verhandlungen gestalteten sich von Anfang an schwierig, da juristisch § 92 SGB V, die Inhalte der Heilmittelrichtlinien, Priorität gegenüber den Rahmenempfehlungen haben. Ein besonderer Streitpunkt war wieder die Befunderhebung. Den Logopädinnen und Sprachtherapeuten ging es dabei um fachliche Kompetenz einerseits, denn nur mit einer Anfangsdiagnostik, die auch Zeit beansprucht, kann eine passende Behandlung erfolgen.

Auf der anderen Seite geht es beim Punkt der Befunderhebung auch um wirtschaftliche Aspekte. Durch die selbstständige Befunderhebung war es es bisher bei niedergelassenen Logopädinnen nicht erforderlich in die gesetzliche Rentenversicherung einzuzahlen. Durch die Streichung der Befunderhebung als Abrechnungsposten hätten viele selbständig arbeitende Kolleginnen für zum Teil Jahre Rentenversicherung nachzahlen müssen. Daneben sollte eine Vor- und Nachbereitungszeit auch nicht mehr abrechenbar sein. Das würde die Professionalität der logopädischen Arbeit sehr in Frage stellen, da gerade in diesem Gebiet die Behandlung sehr individuell am einzelnen Patienten ausgerichtet werden muß. Bei der Erstellung der Rahmenempfehlungen war dieses Mal die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) anhörungsberechtigt. Mit dem Argument zu hoher Kostenbelastung und ausreichender Fachkompetenz der verordnenden Ärzte bezüglich der Art und der Dauer der notwendigen Behandlung wollten sie Befunderhebung, Entscheidungen über Art und Durchführung von Behandlungen und auch die Vergütungsrelevanz von Vor- und Nachbereitungszeiten streichen.

Die sprachterapeutischen Verbände konnten sich trotz dieser Stellungnahme der KBV durchsetzen, da sie in langen und geduldig logopädischer Inhalte und Tätigkeiten darstellten und um obige Abrechnungsposten zäh kämpften. Das war angesichts der Weichenstellungen der Gegenseite, die Logopädie den anderen Berufsgruppen (nämlich Physiotherapie, Ergotherapie und bald auch Podologie=Fußpflege) anzugleichen, ein voller Erfolg.

Das waren nur die "harten Brocken" in der Entwicklung der letzten sechs Jahre. Es gibt seit Sommer 2001 neue Verordnungsformulare, die, wenn sie von den Ärzten nicht korrekt ausgefüllt werden, den Heilmittelerbringern (nach erbrachter Leistung) unvergütet von den Abrechnungsstellen der Krankenkassen zurückgeschickt werden. Das bedeutet in der Praxis, daß die Heilmittelerbringer die Verordnungen der Ärzte faktisch kontrollieren sollen. Ein Jahr nach Einführung der Formulare werden im Bereich der Logopädie noch immer zwischen 30% und 70% aller Verordnungen fehlerhaft erstellt, von den anderen Berufsgruppen hört man ähnliches.

Insgesamt hat der bürokratische Aufwand, auch für die Ärzte, wesentlich zugenommen, was von der Zeit abgeht, die für Patienten aufgebracht werden könnte. Die fachübergreifende Kooperation von Therapeuten und Ärzten hat sich durch die vielen und häufig wechselnden Regeln nicht einfacher gestaltet. Für die Patienten ergibt sich, daß sie viel mehr Aufwand haben als vorher, Verordnungen und die entsprechenden Behandlungen zu bekommen.

Wenn sich im Bereich der deutschen Wirtschaft nicht eine grundlegende Änderung ergibt, ist weiterhin mit oben dargestellten Bürokratie- und Einsparmaßnahmen zu rechen, immer mit der unausgesprochenen Unterstellung, daß die Beschäftigten im Gesundheitswesen nur ihre Pfründe sichern wollen. Was es auf lange Sicht kosten wird, nicht genügend im Bereich von medizinischer Forschung, Vorsorge und Behandlung, wird von den "Kosteneinsparern" mit ihrer Bürokratie, größtenteils ohne medizinische Fachkenntnis, nicht zur Kenntnis genommen, weil sonst ganz klar würde, daß das gesamte System nicht mehr stimmt. Meines Wissens hat keine der vorhandenen Parteien außer etwas veränderten Sparvarianten eine Perspektive, wie unter anderem in der Gesundheitspolitik eine grundsätzliche Verbesserung zu erreichen wäre.

Unsere größte Ressource und unser größter Reichtum sind die Menschen. Damit sie gesund heranwachsen und kreativ leben und arbeiten können, ist eine andere Wirtschaftspolitik notwendig, die produktiv arbeitet und nicht virtuell.


Zurück zur Politik-Hauptseite: