März 2004:

Christus und das Römische Reich

Eine Replik auf Mel Gibsons Film "Die Passion Christi"

Gemälde: Was ist Wahrheit
Pontius Pilatus und Jesus.
Dieses Gemälde des russischen Malers Nikolaj N. Ge (1890, Tretjakow-Galerie, Moskau) trägt den Titel "Was ist Wahrheit?"

Mel Gibsons neuer Film Die Passion Christi erweckt den Anschein, Jesus Christus sei auf Betreiben der Juden gekreuzigt worden. Tatsächlich wurde Christus jedoch von den Römern hingerichtet, weil seine Lehre von der Gotteskindschaft aller Menschen die Herrschaftsideologie des Römischen Reiches, das auf dem Kult des Kaisers als "Sohn Gottes" beruhte, in seinen Grundfesten bedrohte

Wer tötete Christus, und worin besteht Christi Bedeutung für uns heute? Diese Fragen sind durch Mel Gibsons neuen Film Die Passion Christi sehr aktuell geworden. Fundamentalisten aller Art, Protestanten, Katholiken und Moslems loben den Film. "Ich glaube, er wird Bedeutung für die gesamte Geschichte des Christentums haben", erklärte einer der Kommentatoren, Louis Giovino von der Katholischen Liga. Der nominell "protestantische" amerikanische Fernsehprediger Jerry Falwell erklärte: "Ich bete, daß Mel Gibsons Film einen starken Einfluß auf unsere Kultur haben wird, und daß er Millionen Filmliebhabern gefällt, die nach einem Funken Ehrlichkeit hinsichtlich der wunderbaren und lebensverändernden Geschichte des Einen, der für alle gestorben ist, hungern."

Der Film löste viele kontroverse Diskussionen aus, da Mel Gibson Jesus Christus auf ungeheuer brutale Weise, unter Einsatz aller Kunstgriffe des modernen Gewaltfilmgenres, umbringen läßt und das jüdische Volk dafür verantwortlich macht. Heute lebende Juden versetzt das mit Recht in Angst und Schrecken. Noch sind die Pogrome im Mittelalter nicht vergessen, die mit der gleichen Methode in Gang gesetzt wurden, die auch Gibson verwendet: die Verleumdung der Juden als "Mörder Christi". Auch die Nazis bedienten sich dieser Propagandalüge. In Vorbereitung auf den Holocaust ließ Goebbels Filme drehen, in denen Christus als blonder, "arischer" Mann und die Juden als die bösen Mörder Christi dargestellt wurden. Dazu gehört auch der berüchtigte Streifen von 1940 Der ewige Jude. Die Gefahr des neuen Films liegt darin, daß er destruktive Emotionen aufwühlt, die die Welt in einen "Kampf der Kulturen" und neue Religionskriege stürzen könnten.

Mel Gibson und Dick Cheney

Die Synarchisten um den amerikanischen Vizepräsidenten Dick Cheney versuchen ganz bewußt, einen solchen Kampf der Religionen und "Kulturen" in Gang zu setzen. Sowohl der Krieg gegen den Irak als auch die amerikanische Unterstützung für die Regierung Scharon in Israel sind Teile des Versuchs, ein amerikanisches Weltreich in der Tradition des Römischen Reichs zu errichten. Davor hat Lyndon LaRouche schon lange gewarnt. Wer daran zweifelt, sollte sich die Weihnachtskarte ansehen, die der bisher wenig religiöse Cheney im Jahre 2003 verschickt hat. "Und wenn kein Spatz zu Boden fallen kann, ohne daß Er es bemerkt, ist es dann wahrscheinlich, daß sich ein Imperium ohne seine Hilfe erheben kann?" Cheney betrachtet die Vereinigten Staaten offenbar als Imperium, das zudem auf den Beistand des Allerhöchsten zählen könne.

Mel Gibson ist ein Instrument der Synarchisten. Er bezeichnet sich selbst als praktizierenden "traditionell-katholischen Christen". Diese sektiererische Gruppierung darf man keinesfalls mit der Katholischen Kirche in einen Topf werfen, denn diese "traditionellen Katholiken" sind weder Katholiken noch Christen. Sie hassen den Papst, vor allem aus antisemitischen Motiven; und sie hassen an Amerika, daß es einmal jedem Menschen das Recht auf Freiheit und Entwicklung verhieß. Sie bewundern statt dessen das Römische Reich, was ihre politischen Ambitionen verrät. Und sie verleumden die Juden als angebliche Mörder Christi, wie Mel Gibson in seinem Film.

Tatsächlich waren es die Römer, die Jesus Christus ermordeten, wahrscheinlich auf direkten Befehl des Kaisers Tiberius. Das Verbrechen Christi war in ihren Augen, daß er das Fundament des Imperiums in Frage stellte, indem er sagte, jeder Mensch - einschließlich der "vergessenen Menschen", der Armen, die unter schlimmsten Bedingungen lebten - habe den gleichen Wert wie ein Imperator.

Der Wert des Menschen und die wirklichen Leiden Christi

Christus wurde von der römischen Besatzungsverwaltung und vom römischen Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet. Der Hohepriester und der König von Judäa - beide von den Römern eingesetzt - sowie die politische Partei, die mit Rom kollaborierte, die Sadduzäer, standen Pilatus dabei zur Seite. Christus wurden Verstöße gegen römische Gesetze vorgeworfen, wie Rebellion, und er wurde von römischen Soldaten auf römische Art hingerichtet, nämlich gekreuzigt. Es ist lächerlich, auch nur zu behaupten, die Juden hätten den Befehl gegeben, Christus zu kreuzigen.

Eine genauere Untersuchung legt nahe, daß der Kaiser selbst an der Entscheidung, Christus zu töten, beteiligt war und seinem Schwiegersohn Pontius Pilatus dazu den Auftrag gab. Warum? Weil es Tiberius zufolge nur einen Sohn Gottes gab - nämlich ihn selbst, den Kaiser. Die Idee Christi, daß alle Menschen, auch die Sklaven und Prostituierten, als Menschen den gleichen Wert haben wie der Kaiser, weil sie alle "Kinder Gottes" sind, bedrohte den Kern des religiösen Mythos, der den Institutionen des Römischen Reichs zugrundelag. Nicht zufällig lautete der Titel des Kaisers Tiberius Caesar Divi Augustae Filius. Augustus. Pontifex Maximus - "Kaiser Tiberius, Sohn des göttlichen Augustus. Der Erhabene. Höchster Priester Roms".

Neben der religiösen Botschaft und den Mysterien Christi gab es auch eine sehr deutliche politische Botschaft: die Verteidigung des Wertes eines jeden Menschen und der Kampf gegen die imperiale Tradition Babylons und Roms, die diesen Werten diametral entgegengesetzt waren. Auch in diesem Kontext müssen die Leiden Christi verstanden werden - einschließlich der Frage, was die Leiden Christi für uns heute bedeuten. Lyndon LaRouche sagte am 19. Januar in seiner Rede beim Gebetsfrühstück zu Ehren von Martin Luther King in Talladega (Alabama):

Es geht um die Heiligkeit jedes einzelnen Menschenlebens. Sind die Menschen nur vernunftbegabte Tiere, oder ist jeder Mensch heilig, weil ihn die schöpferische menschliche Vernunft von den Tieren unterscheidet?

Das Römische Reich und der Kaiserkult

Das Imperium Romanum, das römische Weltreich, beruhte auf einem entgegengesetzten Menschenbild. Im Jahr 29 v.Chr. wurde in Rom ein neuer Tempel eingeweiht. Es war der Tempel des "göttlichen Julius" (Templum Divi Iuli). Der Tempel, dessen Ruinen noch heute zu sehen sind, stand am Ostrand des Forum Romanum, dem Verwaltungszentrum des Reichs, und er wurde sozusagen zum Fundament der römischen "Verfassung", der rechtlichen Grundlage für die Herrschaft der römischen Kaiser.

Rom befand sich seit rund 100 Jahren in einer schrecklichen Krise, als es Julius Caesar (100-44 v.Chr.) um 45 v.Chr. gelang, durch einen Militärputsch die Macht an sich zu reißen. Formell war Rom eine "Republik", bis Julius Caesar die Macht ergriff. Aber das Ideal der römischen Republik, das zum Teil auf den Errungenschaften der Griechen fußte, war schon längst verfallen. Die Gracchen hatte 100 Jahre zuvor versucht, Rom zu reformieren und das Reich von seinem Weg in die Selbstzerstörung abzubringen. Aber sie waren gescheitert. Im folgenden Jahrhundert wuchs das Reich weiter, aber es kam zu heftigen Bürgerkriegen, Sklavenaufständen und diktatorischen Regimes, bis im Jahr 51 v.Chr. die schwerste Finanzkrise, die es bis dahin gegeben hatte, eintrat, als das System der privatisierten Steuereintreibung aufgrund von Spekulation zusammenbrach. Einige, wie Marcus Tullius Cicero (106-43 v.Chr.), versuchten, den Wert des Menschen zu verteidigen, aber die Entwicklung drängte zur Errichtung eines monarchischen Imperiums und eines Finanzsystems, das auf Plünderung und Spekulation beruhte. Das führte zum Zusammenbruch des "republikanischen Systems" und zur Diktatur der Imperatoren, von denen Julius Caesar der erste war.

Nach der Ermordung Caesars 44 v.Chr. folgte eine Zeit des Chaos und des Bürgerkriegs, aus denen Caesars Adoptivsohn Octavian (63 v.Chr.-14 n.Chr.) nach der berühmten Schlacht von Actium 31 v.Chr. als neuer Alleinherrscher Roms hervorging. Octavian reformierte Rom und errichtete eine permanente Diktatur nach dem Vorbild der Königreiche des Ostens in Babylon und Ägypten. Die Nachkommen des Octavian sollten ihm als Machthaber nachfolgen. Sie sollten zusammen mit einer kleinen Oligarchie herrschen, deren Macht auf einem religiösen und politischen Mythos beruhte, der die enge Beziehung zwischen den Göttern und dem Herrscher betonte. Dazu mußten Roms Herrscher vergöttert werden.

42 v.Chr. wurden erste Schritte zur Entwicklung eines Herrscherkultes unternommen, als der zwei Jahre zuvor ermordete Caesar zum Gott erklärt wurde. Gleichzeitig wurde entschieden, dem neuen Gott einen Tempel zu errichten. Zunächst errichtete man an der Stelle, an der Caesar ermordet worden war, eine Säule mit der Inschrift "Vater des Vaterlandes". Schon bald danach begann Octavian, einen Tempel für seinen Adoptivvater Julius Caesar zu bauen. Dieser Tempel wurde 29 v.Chr. fertiggestellt und eingeweiht. Zu dieser Zeit war Octavian unangefochtener Herr des Römischen Reichs.

Nach der Einweihung des Tempels gaben der Kaiser und der Senat mehrere offizielle Erklärungen ab, um einen Mythos um Julius Caesar als dem Mann zu schaffen, der die römischen Götter mit dem römischen Staat verbunden habe. 27 v.Chr. nahm Octavian den Namen Augustus an, was soviel bedeutet wie "der Erhabene". Gleichzeitig verkündete er offiziell die pax romana und behauptete, daß Rom, das zu diesem Zeitpunkt ein Dutzend Kriege führte, erstmals seit Hunderten von Jahren Frieden geschaffen habe. Dies zeige, daß die Götter auf der Seite des Augustus stünden. Später, 5 v.Chr. wurde Augustus dann zum höchsten geistlichen Würdenträger des Reiches, zum pontifex maximus erklärt.

Binnen weniger Jahre war das römische Herrschaftssystem völlig umgestaltet worden, es beruhte nun auf dem Kaiserkult. Augustus war der "Vater des Vaterlandes", ein "Sohn Gottes", der von Jupiter nach seinem Tod in den Himmel erhoben und zum Gott erklärt werden würde. Am Eingang der meisten wichtigen Tempel Roms wurde seine Statue aufgestellt, um seinen Status als künftiger - wenn auch nicht gegenwärtiger - Gott zu demonstrieren.

Jeder Sammler römischer Münzen kann dies bestätigen, denn ungefähr ab 15 v.Chr. kamen römische Münzen in Umlauf, auf die der Herrschertitel "Sohn Gottes" geprägt war. In Abb. 2 ist links ein Silberdinar zu sehen, eine der damals am weitesten verbreiteten Münzen Roms. Der offizielle Titel des Augustus lautet hier: AVGVSTVS DIVI F - "Sohn des vergöttlichten (Caesar)". Auf der anderen Münze steht: CAESAR AVGVSTVS DIVI F PATER PATRIAE - "Cäsar, Sohn des vergöttlichten Augustus, Vater des Vaterlandes".

Nach mehreren vergeblichen Versuchen, einen Nachfolger zu finden, adoptierte Augustus Tiberius Claudius (42 v.Chr.-37 n.Chr.), der wiederum Germanicus als seinen Sohn und Erben adoptierte. Das geschah ungefähr 4 v.Chr.

Nach dem Tod des Augustus 14 n.Chr. wurde Tiberius Kaiser, und der Kaiserkult blieb die "Verfassung" des Römischen Reichs. Auch Tiberius verwendete den offiziellen Titel "Sohn Gottes". Auch auf seinen Münzen stand "Tiberius, Sohn des vergöttlichten (Augustus)", und in einer längeren Version TI CAESAR DIVI AVG F AVGVSTVS PONTIF MAXIM - "Kaiser Tiberius, Sohn des vergöttlichten Augustus, der Erhabene, der Oberste Priester."

Diese Inschriften finden sich nicht nur auf Münzen, sondern überall im Römischen Reich an Gebäuden und z.B. auch an Meilensteinen.

Vergil und der Mythos des "goldenen Zeitalters"

Um den Mythos des "goldenen Zeitalters" des Augustus zu verbreiten, wurde eine Gruppe von Dichtern angeheuert. Sie verkündeten, das goldene Zeitalter werde aus der Allianz der religiösen Kulte mit dem Volksstaat hervorgehen. Der wichtigste unter diesen Dichtern war Vergil (70 v.Chr.-19 v.Chr.). Seine beiden Hauptwerke waren die Eklogen und die Aeneis. Diese Eklogen wurden noch vor dem endgültigen Sieg Octavians verfaßt, 37-39 v.Chr. Die "Prophezeihung" der vierten Ekloge wurde von manchen Fundamentalisten (wie der Sekte, der Mel Gibson angehört) als eine Vorankündigung Christi interpretiert und sogar als "Messianische Ekloge" bezeichnet. Dies entbehrt nicht der Ironie, wenn man bedenkt, daß es sich bei der beschriebenen Person nicht um Christus, sondern um den Adoptivsohn des Julius Caesar, Octavian handelt. In seinem späteren Werk, der Aeneis, ging Vergil zu den Wurzeln des Bündnisses zwischen den Göttern und dem Reich zurück, in die Zeit vor der Gründung Roms, die Zeit des Heroen Aeneas. Hier ist eine Passage aus dem 6. Buch, in der Vergil das Zeitalter des Augustus und die Erbschaft des Julius Caesar verherrlicht. In dieser Szene besucht Aeneas, Sohn der Aphrodite, die Unterwelt, das Reich der Toten, und hört, wie sein Vater Anchises die künftige Größe Roms vorhersagt: Diese Zeilen enthalten die Idee des Römischen Reichs. Durch den Nachkommen der Götter, Augustus, wird ein neues Zeitalter geboren werden, in dem Rom die Welt erobert. In den letzten Versen der zitierten Stelle heißt es, es sei anderen Völkern überlassen, Metall zu produzieren, dies sei nicht die Aufgabe Roms. Es sei auch nicht Roms Aufgabe, die Künste und Wissenschaften zu entwickeln - "Du sollst, Römer, beherrschen des Erdreichs Völker mit Obmacht".

Jesus Christus, Philon und die Platonische Tradition

Im Grenzgebiet zwischen dem östlichen Teil des Römischen Reichs und dem Großreich der Parther wurde 4 oder 5 v. Chr. ein Kind geboren: Jesus Christus. Dieser Junge wuchs in der Familie eines Zimmermannes auf und wurde Zimmermann, bevor er sich seiner eigentlichen Mission zuwendete, die er mehrere Jahre verfolgte, bis er ungefähr 31 oder 33 n. Chr. gekreuzigt wurde.

Seine Mission war religiöser Natur - aber auch politischer! Diese Tatsache wird heutzutage oft unter den Tisch gekehrt.

Was glauben Sie, wie die imperiale Sklavenhaltergesellschaft des alten Rom reagierte, als sie hörte, daß Christus, ein armer Zimmermann in Judäa, eine Massenbewegung aufbaute, die sogar römische Soldaten in ihre Reihen zog und die auf dem Grundgedanken beruhte, daß alle Menschen, auch Menschen in den schlimmsten Umständen, wie z.B. Sklaven, "Kinder Gottes" werden konnten. Ein armer Zimmermann in Judäa wagte es, den heiligen Titel des Kaisers zu verwenden.

Die Botschaft Christi war die der Agapé, der Liebe zur Menschheit, zur Wahrheit und zu Gott. Und er wiederholte immer wieder, daß er aufgerufen sei, die Menschen aus dem niedrigsten Lebensbedingungen zu erheben: "Wenn du ein Mahl machst, so lade Arme, Verkrüppelte, Lahme und Blinde ein." (Lukas 14,13)

War das Reich Gottes im Himmel, wie es die Propaganda des Augustus besagte, und der Kaiser der einzige, der die himmlischen Dekrete interpretieren durfte, da er der Erbe der Götter war? Nein: "Das Reich Gottes ist mitten unter euch" (Lukas 17,21) - in dem Sklaven, den Armen und Entrechteten, dem neugeborenen Kind, im Lahmen und im Blinden!

Die Anhänger Christi folgten in diesem Geist, auch nachdem Christus von den Römern gekreuzigt worden war. Der Apostel Paulus betonte ungefähr ein Dutzend Jahre nach der Kreuzigung Christi: "Nachdem aber der Glaube gekommen ist, sind wir nicht mehr unter dem Zuchtmeister. Denn ihr seid alle durch den Glauben Gottes Kinder in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus angezogen. Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus." (Galater 3,25-28)

Im Römerbrief schrieb Paulus: "Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, daß wir Gottes Kinder sind. Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi (Römer 8,16-17)", und im Brief an die Korinther: "Wißt ihr nicht, daß ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt?" (1. Korinther 3,16)

Der Zinsgroschen

War das unpolitisch? Einige behaupten, Christus habe gesagt, man solle den Kaiser sich um seine Angelegenheiten kümmern lassen, und die Kirche solle neutral bleiben. Dabei berufen sie sich auf die Geschichte aus der Bibel über Christus und den Zinsgroschen, in der Christus sagt: "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!"

Welch ein Mißverständnis! Christus wurde gefragt: "Darum sage uns, was meinst du: Ist's recht, daß man dem Kaiser Steuern zahlt oder nicht?" Christus antwortete: "Wessen Bild und Aufschrift ist das?" Und man erwiderte ihm: "Des Kaisers." Da sagte er ihnen: "So gebt dem Kaiser (zurück), was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist!" Als sie das hörten, wunderten sie sich, ließen von ihm ab und gingen davon. (Matth. 22,15-22)

Ist das unpolitisch? Erinnern wir uns: Es war das Bild des Kaisers, der in der Inschrift als Sohn Gottes bezeichnet wurde - und Christus antwortet einfach, daß der Kaiser nichts mit Gott zu tun hat!

Der jüdische und griechische Hintergrund

Der Hintergrund der Mission Christi ist, daß in Griechenland und in Israel zwischen 600 und 350 v.Chr. zwei umwälzende Entwicklungen stattgefunden hatten. Den Höhepunkt dieser geistigen Revolution in Griechenland bildeten Platons Werk und sein Konzept, daß jeder Mensch fähig ist, an der Fortentwicklung der göttlichen Schöpfung teilzuhaben. Im Dialog Menon läßt er einen jungen Sklaven wichtige mathematische Konzepte lösen, von denen man zuvor glaubte, nur "freie Männer" könnten damit umgehen. Damit war bewiesen, daß auch ein Sklave denken kann!

In Theaitet entwickelt Platon Ideen über den Zusammenhang von Schöpfer, Gott, den Menschen und die Fähigkeit des Menschen, "wie Gott" zu werden.

Platons Konzept war, daß die Wahrheit, das Gute und das Schöne darin bestehen, Gott und der Wahrheit zu folgen: "Zwei Vorbilder, Freund, bestehen in Wirklichkeit: das göttliche der größten Glückseligkeit und das ungöttliche des Elends." Dadurch werden wir "diesem ähnlich, jenem aber immer unähnlicher".4 Wir alle zahlen den Preis dafür, daß wir dem Vorbild, das wir uns gewählt haben, immer ähnlicher werden.

In Israel wurde mit der Entstehung der monotheistischen, jüdischen Religion ein ähnliches Konzept geboren. Die Juden betrachten sich selbst als "Kinder Gottes", die "nach seinem Ebenbild geschaffen sind". Nach einer Weile wurde dieses Konzept zum Schutz der Schwachen vor den Starken weiterentwickelt. Durch Gerechtigkeit kann der Schwache über den Starken siegen, so wie der junge David den großen Goliath besiegte.

Oder, wie es in den Psalmen heißt, die zur Zeit der babylonischen Gefangenschaft der Juden entstanden: "Das Wenige, das ein Gerechter hat, ist besser als der Überfluß vieler Gottloser. Denn der Gottlosen Arm wird zerbrechen, aber der HERR erhält die Gerechten. Der HERR kennt die Tage der Frommen, und ihr Gut wird ewiglich bleiben." (37. Psalm)

Über all diese Jahre der Leiden der Juden hielt diese neugeborene Idee des unendlichen Werts jedes Menschen als geliebtes Kind Gottes die jüdische Nation zusammen. Unmittelbar vor Christi Geburt wurde in den Kreisen um Philon von Alexandria das Beste der griechischen Tradition mit dem Besten der jüdischen Tradition verschmolzen.

Hier ist nicht der Ort, das Leben Philons (20-15 v.Chr. bis 45-50 n.Chr.) zu beschreiben. Er war der führende jüdische Intellektuelle seiner Zeit und spielt bis heute eine wichtige Rolle für die Juden.

Philon vereinigte das platonische Konzept der Vernunft und der Ideen, des logos, mit dem traditionellen Monotheismus der Juden. Dadurch hob er den Wert des Menschen auf eine noch höhere Ebene. Er war es, der als erster betonte, daß jeder Mensch das Recht auf eine direkte Beziehung zu Gott hat. "Jeder Weise hat in Gott einen Freund", und "der Geist des Weisen ist das Haus Gottes", erklärte er in mehreren seiner Schriften.5

Philon hatte die gleiche brennende Leidenschaft für die Gerechtigkeit wie sie in den Psalmen zum Ausdruck kommt, aber er fügte ein weiteres Konzept hinzu: Die Idee, daß jeder gerechte Mensch ein König ist, auch wenn er ein Sklave ist! "Wenn jemand alle Tugenden mit Ernsthaftigkeit und Nüchternheit annimmt, dann ist er ein König, auch wenn er nur ein Privatleben führt. Kein närrischer Mensch ist ein König, auch wenn er mit der höchsten Macht zu Land und zu See ausgestattet wäre, sondern nur der ist ein König, der ein tugendhafter und gottliebender Mann ist. Wir müssen denjenigen, der nicht versteht, gerecht zu sein, als Privatmann betrachten, den aber, der es versteht, gerecht zu sein, als den einzigen König."5

Politisch verbrachte Philon sein gesamtes Leben damit, für die Menschen in den schlechtesten Umständen zu kämpfen. Er kämpfte für Gerechtigkeit und Vernunft gegen die "okkulten Mysterien", die "Mummereien und mystischen Fabeln" der Kulte des Römischen Reichs und des damit verbundenen Isis- und Mithraskults. Noch heute ist ein von ihm verfaßter Bericht über eine Botschaft an den Kaiser erhalten, der auf Tiberius folgte: Gaius Caligula. Damals ging es darum, ob die Juden gezwungen werden sollten, in jeder Synagoge eine Statue des Kaisers aufzustellen oder nicht, um auf diese Weise anzuerkennen, daß auch der Kaiser ein Gott war. Die Juden weigerten sich.

Pilatus und Israel zur Zeit Jesu

Philon besuchte später Rom und sprach 37 n.Chr. mit dem Kaiser. Damals hatte man schon jahrelang in Israel und unter den Juden im Imperium darüber gestritten, ob man sich dem Kult des Kaisers widersetzen sollte oder nicht. Es hatte in Rom Aufstände und Demonstrationen gegen die römischen Versuche gegeben, die Juden zur Anerkennung des Kaisers als Sohn Gottes zu zwingen.

Zu dieser Zeit war Tiberius römischer Kaiser. Er war schon alt, und grausam und blutrünstig. Er lebte auf der Insel Capri und sein Leben war eine einzige Orgie der Genußsucht. Seine Herrschaft war grausam und beruhte auf Angst. Sie wurde durch die Ausbreitung neuer Kulte wie des Mithraskultes abgesichert, der später eng mit den römischen Kaisern verbunden war.

Die Juden wurden schon früh als Hauptfeinde des Kaisers betrachtet. Im Jahre 19 n.Chr. vertrieb Tiberius alle Juden aus der Hauptstadt des Reiches, Rom.

26 n.Chr. beschlossen Kaiser Tiberius und seine rechte Hand, der antisemitische General Sejanus, den Druck auf das jüdische Volk zu vergrößern. Zur Zeit des Kaisers Augustus hatte man einen Kompromiß zwischen den Juden und Rom geschlossen, wonach sie die Rituale, die zum Kaiserkult gehörten, nicht befolgen mußten. In Israel wurden sogar besondere Münzen ohne das Bild des Kaisers und ohne den provokanten Titel des Kaisers geprägt.

Kaiser Tiberius beschloß, den Status der Juden zu ändern, und schickte Pontius Pilatus, der mit seiner Tochter Claudia Procula verheiratet war, nach Judäa. Der Vorgänger des Pilatus, Valerius Gratus, hatte an der Tradition des Augustus festgehalten und versucht, im Frieden mit den Juden zu leben und ansonsten wie üblich Steuern einzutreiben und Teile des Tempelschatzes zu stehlen. Pilatus hingegen nahm, sobald er 26 oder 27 n.Chr. in Judäa eintraf, den Kampf für den Kaiserkult auf, und brachte die Symbole des Kaiserkults nach Jerusalem, der heiligen Stadt der Juden. Josephus, der die Geschichte der endgültigen Unterwerfung der Juden in Judäa durch die Römer 70 n.Chr. aufgeschrieben hat, beschreibt die Herrschaft des Pilatus wie folgt:

Josephus schreibt, daß Tausende von Juden gegen die verhaßten Insignien demonstrierten, auf denen der Kaiser als Sohn Gottes bezeichnet wurde. Pilatus setzte schließlich auf List: Er wollte die Anführer der Demonstranten fangen, indem er römische Soldaten unter die Menge mischte. Aber wenn sie gefangen wurden, zeigten die Juden keine Angst, als Pilatus ihnen drohte, sie hinzurichten: "Die Juden aber warfen sich zu Boden, entblößten ihren Hals und erklärten, sie wollten lieber sterben als etwas geschehen lassen, was der weisen Vorschrift ihrer Gesetze zuwiderliefe. Einer solchen Standhaftigkeit bei Beobachtung des Gesetzes konnte Pilatus seine Bewunderung nicht versagen und befahl daher, die Bilder sogleich aus Jerusalem nach Caesarea zurückzubringen."6

Nach einigen Jahren kam es zu weiteren Skandalen. Der Versuch des Pilatus, Geld vom möglicherweise reichsten Tempel des ganzen Kaiserreichs zu bekommen (allein an Ostern kamen Zehntausende von Besuchern nach Jerusalem, um dem Tempel Geld und Güter zu opfern), ist interessant. Pilatus und der Kaiser erhielten viel Geld durch die Tempelsteuer, aber diesmal waren sie offenbar zu weit gegangen. Man muß bedenken, daß Christus, als er die Händler und Geldwechsler aus dem Tempel vertrieb, ein für Rom äußerst profitables Geschäft angriff, nämlich die römische Steuer auf die Gaben der Juden für den Tempel in Jerusalem. Deshalb war auch die Frage der römischen Münzen eine ständige Quelle des Konflikts, insbesondere als Pilatus 29-30 n.Chr. erstmals die offiziellen Münzen des Kaisers einführte, und versuchte, die besonderen jüdischen Münzen zu ersetzen.

Im Konflikt zwischen Pilatus und den Juden schlachtete Pilatus Josephus zufolge "viele Juden". So töteten die Römer - unterstützt durch ihre Partei unter den Juden, die vom Hohepriester Kaiphas angeführt wurde - auch Jesus Christus. Kaiphas wurde 18 n.Chr. von Pilatus' Vorgänger, dem römischen Prokurator Valerius Gratus, eingesetzt und 37 n.Chr. vom römischen Legaten Vitellius abgesetzt. Pilatus manipulierte die Anhänger des Kaiphas geschickt, indem er an jüdische Traditionen und die "öffentliche Meinung" appellierte. Aber das Verbrechen, das man Jesus Christus vorwarf, war Aufstand gegen Rom: "Wer sich zum König macht, der ist wider den Kaiser." (Johannes 19, 12)

Josephus schreibt, daß Jesus Christus genau zu jener Zeit aktiv wurde, als Pilatus gegen die Juden vorging. "Um diese Zeit lebte Jesus, ein weiser Mensch, wenn man ihn überhaupt einen Menschen nennen darf ... Und obgleich ihn Pilatus auf Betreiben der Vornehmsten unseres Volkes zum Kreuzestod verurteilte, wurden doch seine früheren Anhänger ihm nicht untreu. Denn er erschien ihnen am dritten Tage wieder lebend, wie gottgesandte Propheten dies und tausend andere wunderbare Dinge von ihm vorher verkündet hatten. Und noch bis auf diesen Tag besteht das Volk der Christen, die sich nach ihm nennen, fort."6

Eine Lehre für heute

Der Führer der amerikanischen Revolution, Benjamin Franklin, schrieb einst: "Wer in die Angelegenheiten der Politik die Prinzipien des frühen Christentums einführt, der wird die Welt umwälzen." Die Grundlage des Christentums ist nicht, wie Cheney und andere uns weismachen wollen, die Verteidigung imperialer Weltherrschaft. Im Gegenteil, es bildet die Grundlage einer wahren Republik. Diese Prinzipien sind auch nicht spezifisch christlich, sondern eines der großen Geschenke der europäischen - jüdischen und christlichen - Zivilisation an die Menschheit.

Die Versuche der Neokonservativen in den USA, ein neues Römisches Reich zu begründen, müssen in der gleichen Weise bekämpft werden, wie die Schüler Platons, Philons und Christi das Römische Reich bekämpft haben: Im Geist der Liebe!

Hier liegt der Fehler Mel Gibsons und seiner Auftraggeber. Heute ist nicht Haß die Antwort, sondern Menschenliebe. Wenn die Zivilisation überleben soll, dann müssen wir schon der Idee eines Imperiums, das sich das Recht anmaßt, die Welt zu unterwerfen und auszuplündern, aus den Köpfen und Herzen der Menschen vertreiben. Alle Völker haben das Recht auf Wohlstand durch wirtschaftliche Entwicklung, auf Glückseligkeit und darauf, künftig selbst zur Entwicklung der Menschheit beizutragen.

Der Geist Babylons und Roms lebt noch heute. Die Idee des Imperiums und die Ideen des unendlichen Werts des Menschen sind jedoch unvereinbar. Aber um das Imperium zu besiegen, brauchen wir wahre Religiösität, und nicht Filme, die Haß ausbrüten anstatt Liebe.


Anmerkungen

1. LaRouche, Das unsterbliche Talent des Martin Luther King, in: Neue Solidarität, 9/2004.

2. Vergil, Eklogen, übersetzt von Hans Zimmermann.

3. Vergil, Aeneis, 6. Buch, in Zusammenarbeit mit Maria Götte übersetzt und herausgegeben von Johannes Götte.

4. Platon, Theaitet, übersetzt von Friedrich Schleiermacher, Insel-Verlag Frankfurt am Main, 1979.

5. Die Philon-Zitate sind überlieferte Fragmente aus verschiedenen längeren Schriften, die wir hier nach der englischen Übersetzung von C.D. Yonge zitieren.

6. Flavius Josephus, Jüdische Altertümer, übersetzt von Dr. Heinrich Clementz, Fourier Verlag, Wiesbaden, 11. Auflage 1993.


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