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Die umfangreichste Finanzwertevernichtung aller Zeiten geht weiter, allein am 3. September lösten sich 500 Milliarden Dollar an Aktienwerten in Luft auf. Noch mehr als die Banken sind die Versicherungen von dem Crash an den Börsen in Mitleidenschaft gezogen.
Im Bild: Der Autor Lothar Komp auf einem Wirtschaftsseminar in Budapest.
Die größte Finanzwertevernichtung aller Zeiten nimmt ihren Lauf. Allein am Dienstag, den 3. September 2002, gingen mehr als 500 Milliarden Dollar an Aktienwerten in Rauch auf. Die amerikanischen Börsen erlitten den schwersten Einbruch seit der auf den 11. September letzten Jahres folgenden Handelswoche. Japanische Aktien stürzten auf den tiefsten Stand seit dem 17. August 1983, das heißt seit mehr als 19 Jahren. In Deutschland gab der DAX in den beiden ersten Handelstagen des Septembers um gut 9% nach. Der Nemax-50 schaffte ein neues Allzeittief. Insgesamt belaufen sich die Wertverluste an den weltweiten Aktienmärkten seit Frühling 2000 auf deutlich mehr als 16 Billionen Dollar. Weitere Verluste sind vorprogammiert. Denn die Auswirkungen der geplatzten "New Economy"-Blase sind noch längst nicht ausgestanden. Und der Amoklauf der heiligen Krieger im Weißen Haus könnte die Weltwirtschaft endgültig in den Abgrund reißen.
Nun könnte man sagen: Wie gewonnen, so zerronnen - schließlich existierten die vernichteten Finanzwerte ja stets nur auf dem Papier. Das ist zwar richtig. Aber dank privatfinanziertem Rentensystem existiert leider auch die Altersversorgung von Hundert Millionen künftigen Rentnern in den USA - demnächst auch in Deutschland - nur auf dem Papier. Als Anfang Juli die Halbjahresabrechnungen der Rentenfonds und "Mutual Funds" bei den amerikanischen Haushalten eintrudelten und eine dramatische Kürzung der zu erwartenden Rentenbezüge dokumentierten, löste dies eine Schockwelle in der amerikanischen Bevölkerung aus. Der private Konsum brach scharf ein und beendete zugleich das Märchen vom bevorstehenden Aufschwung. Massenpanik ergriff die Aktienmärkte. Nie zuvor in der amerikanischen Geschichte wurden in einem Monat mehr Gelder aus Aktienfonds abgezogen als im Juli 2002.
Nicht nur die privaten Investoren, auch die Banken und Versicherungen, haben sich an den Börsen mächtig die Finger verbrannt. In Japan machen Zeitungsberichte die Runde, wonach die Regierung noch im Laufe des Septembers ein drittes, vom Steuerzahler finanziertes Bankenrettungspaket verkünden wird, weil sich im Zuge der Kernschmelze bei Aktien das Eigenkapital der japanischen Banken verflüchtigte und diese ohne Hilfe von außen demnächst ihre Pforten schließen müßten.
Am 3. September büßte die amerikanische Großbank Citigroup an einem einzigen Tag 17 Milliarden Dollar an Marktwert ein, nachdem ein anderes Finanzinstitut, Prudential Securities, seinen Kunden geraten hatte, Citigroup-Aktien zu "verkaufen". Eine solche Verkaufsempfehlung für einen Titel des Dow Jones ist extrem ungewöhnlich. Noch vor zwei Jahren lauteten fast alle Empfehlungen von Bankanalysten für irgendwelche Aktien entweder auf "unbedingt kaufen", "kaufen" oder zumindest "halten". Die Empfehlung "reduzieren" gab es höchstens für akute Pleitekandidaten. Mit "verkaufen" wurden hoffnungslose Fälle bezeichnet. Prudential Securities begründete die Verkaufsempfehlung mit laufenden Untersuchungen über betrügerische Komplizenschaft zwischen Citigroup und Enron, Ermittlungen der New Yorker Staatsanwaltschaft gegen Citigroup wegen systematischen Betrugs bei Börsengängen, der trüben Lage an den Aktienmärkten, erheblichen Kreditrisiken in Lateinamerika sowie stark ansteigenden Zahlungsunfähigkeiten heimischer Unternehmen und Privathaushalte. Abgesehen von den Betrugsvorwürfen trifft diese Beschreibung auf ziemlich jede Großbank in Amerika, Europa und Asien zu. So erklärte ein Vertreter einer führenden deutschen Bank im privaten Gespräch nach einer BüSo-Wahlveranstaltung, bei Anlegung rigider Bewertungsmethoden wären schon so viele Kredite seiner Bank notleidend, daß die daraus resultierenden Abschreibungen das gesamte Eigenkapital aufzehren würden. Mit anderen Worten: die Bank müßte ihr Geschäft einstellen.
Der Börsenboom der 90er Jahre verführte viele Versicherungsunternehmen dazu, den Aktienanteil ihrer Vermögensbestände deutlich zu erhöhen. Insbesondere in der Schweiz, einst ein Symbol für Solidität und Seriösität, wurden die Führungsetagen der Finanzinstitute vom Börsenwahn erfaßt. Jetzt kommt die Quittung.
Schon Ende Juli diesen Jahres stand das Finanzsystem der Schweiz, wie es ein Bankier ausdrückte, "kurz vor einem Herzinfarkt". Im Mittelpunkt der Marktturbulenzen befand sich das Finanzimperium von Martin Ebner, das auf die Zahlungsunfähigkeit zutaumelte. Ebner hatte in den letzten Jahren eine aggressive Strategie betrieben, die "rigide" und "altmodische" schweizerische Bankenkultur umzukrempeln. Dabei gelang es ihm, unter anderem auf die Credit Suisse (CS) erheblichen Einfluß auszuüben. Infolge des weltweiten Aktienkrachs stand Ebners Finanzkonglomerat Ende Juli unmittelbar vor dem Zusammenbruch, was wahrscheinlich eine Kettenreaktion von Notverkäufen Schweizer Bankaktien ausgelöst hätte. Berichten zufolge hielten die Eidgenössische Bankenkommission (EBK) und die Schweizer Nationalbank (SNB) deshalb Ende Juli ein Notstandstreffen ab und entschieden, daß die im öffentlichen Besitz befindliche Schweizer Kantonalbank (SKB), Teile von Ebners Finanzimperium übernehmen solle.
Am 14. August meldete sodann die Credit Suisse Group einen überraschend hohen Quartalsverlust, und zwar unter anderem deswegen, weil die zur Gruppe gehörende Winterthur-Versicherung in diesem Jahr wegen Aktienmarktverlusten eine lebensverlängernde Kapitalspritze von 1,7 Mrd. Schweizer Franken benötigt hatte.
Am 29. August verkündete Swiss Reinsurance, das zweitgrößte Versicherungsunternehmen der Welt, einen Gewinneinbruch im ersten Halbjahr um 91%. Wie das Management mitteilte, lagen die Ursachen hierfür keineswegs bei den Terroranschlägen vom 11.September oder den Überflutungen in Deutschland, Österreich und Osteuropa. Vielmehr mußte Swiss Re erhebliche Abschreibungen bei seinen Aktienbeständen vornehmen. Noch am gleichen Tag mußte Munich Reinsurance, das größte Versicherungsunternehmen der Welt, sogar einen Verlust für das zweite Quartal berichten. Hauptgrund: 1,5 Milliarden Dollar Abschreibungen beim Aktienbesitz.
Am 5. September erklärte die Zurich Financial Services AG, eines der größten Versicherungsunternehmen Europas, infolge von Verlusten am Aktienmarkt habe sich das Kapital seit Jahresanfang von 18 auf 9 Milliarden Dollar halbiert und Notmaßnahmen seien unumgänglich: Sämtliche, nicht direkt mit dem Versicherungsgeschäft zusammenhängenden Aktivitäten, werden eingestellt. Daher werden 4500 Mitarbeiter entlassen. Und schließlich werde man 2,5 Milliarden Dollar über eine Aktienemission beschaffen, wobei sich die neuen Aktien unter gegenwärtigen Bedingungen natürlich nur zu Ramschpreisen verkaufen lassen.
Die amerikanische Investmentbank Morgan Stanley beschleunigte am 2. September den Kursverfall von Versicherungsaktien, indem sie kurzerhand die gesamte europäische Versicherungsbranche herabstufte. Morgan Stanley bezichtigte die europäischen Versicherer, im großen Stile "Wetten auf die Aktienmärkte" abgeschlossen zu haben, und zwar in einem Volumen von insgesamt 1254 Milliarden Dollar bzw. 30% der Gesamtanlagen: "Wenn sich die Aktienmärkte nicht erholen, steht der Branche angesichts des aufgezehrten Eigenkapitals eine radikale Restrukturierung bevor." Dies werde "für die einfachen Aktionäre keine fröhliche Angelegenheit".
Ein Londoner Finanzinsider kommentierte: "Die Finanzwelt lebt jetzt von Augenblick zu Augenblick. Vermutlich machen wir uns auf den Weg zum finalen Abstieg."
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