April 2004:
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Die Gewerkschaften haben eine historische Chance verpaßt

DGB-Kundgebung auf dem Stuttgarter Schlossplatz
Michael Weißbach, Kandidat zum Europäischen Parlament, beschreibt und kommentiert die Großkundgebung der Gewerkschaften und Sozialverbände am 3. April in Stuttgart.

Im Bild die DGB-Kundgebung auf dem Stuttgarter Schloßplatz, auf der BüSo-Aktivisten aus Baden-Württemberg, Hessen und Bayern BüSo-Extras an die Teilnehmer verteilten.

"Zielbewußte, tiefgreifende Maßnahmen zur Belebung der Wirtschaft waren nie notwendiger als in der heutigen Situation. Die Arbeiterbewegung braucht ein wirtschaftliches Aktionsprogramm, das den Arbeitern wie auch anderen Volksschichten zeigt, daß die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften einen Ausweg aus der wirtschaftlichen Not sehen. Gegenwärtig haben wir kein wirtschaftspolitisches Aktionsprogramm. Wir haben eine Liste sozialer Forderungen, die wir nach bestem Wissen und Können durchzusetzen versuchen. Wir haben eine bestimmte Stellungnahme zu einzelnen Fragen der Wirtschaftspolitik. Ein Programm haben wir nicht!"

Diese Sätze stammen aus einem Papier des wirtschaftspolitischen Vordenkers des ADGB, Wladimir Woytinsky, das dieser 1931 im Gewerkschaftsorgan "Die Arbeit" veröffentlichte. Der Aufsatz war Teil der leidenschaftlichen Bemühungen Woytinskys, die Gewerkschaften und die SPD für ein internationales Programm gegen die Wirtschaftskrise zu gewinnen.

Wie wir heute wissen, hatten die Bemühungen Woytinskys und anderer Gewerkschaftskreise, aber auch von Ökonomen wie Dr. Wilhelm Lautenbach keinen Erfolg. Das Ergebnis kennen wir: Die SPD entschied sich für "das kleinere Übel", die brutale Sparpolitik eines Brüning. Was sie und Deutschland danach dafür bekamen, war Hjalmar Schacht, der sich im Interesse der Banken von den Nazis den Rücken von unliebsamem Widerstand gegen seine Politik freihalten ließ.

Blicken wir aus der Perspektive vom Juni 1931 auf den 3. April 2004. In einem Aufruf "Aufstehn - damit es endlich besser wird! Schluß mit dem Sozialabbau!" hatten die Gewerkschaften in Deutschland zu Massenkundgebungen nach Berlin, Köln und Stuttgart aufgerufen. Auf Massenflugblättern hatten sie ihre Liste berechtigter Forderungen zu einzelnen Fragen der Wirtschaftspolitik formuliert: solidarische Gesundheitsversicherung, angemessenes Rentenniveau für ein würdiges Leben im Alter, mehr Arbeitsplätze statt Arbeitsplatzvernichtung durch Arbeitszeitverlängerung, Ausbildungsplätze für Jugendliche, mehr Geld für Kindergärten, Schulen und Hochschulen usw.

Die Menschen hatten sich mobilisieren lassen. Mehr als 500 000 Menschen gingen in Berlin, Köln und Stuttgart auf die Straße und fanden sich zu den Großkundgebungen ein. Nicht nur Gewerkschaftsmitglieder waren dem Aufruf gefolgt, auch die Sozialverbände, Vertreter kirchlicher Gruppen und - im Gegensatz zu Meldungen in der Presse - auch viele junge Menschen waren mit dabei.

Viel Lärm um nichts

In Stuttgart waren Gruppen aus dem ganzen süddeutschen Raum zusammengekommen. Von 9 Uhr morgens bis zum vorgesehenen Kundgebungsbeginn auf dem Schloßplatz um 11 Uhr strömten die Massen von den Bahnhöfen und Bushaltestellen zu den Treffpunkten der Stuttgarter Innenstadt. Was für eine Chance für die politische Führung der Gewerkschaften und SPD, diesen Menschen nicht nur eine Gelegenheit zum Luftablassen, sondern auch eine Perspektive für ein aktives Eingreifen zur Veränderung der Wirtschaftspolitik zu geben...

Aber was geschah? Die Menschen wurden geschlagene zwei Stunden auf dem Schloßplatz stehengelassen und von der Riesenbühne aus mit Schallwellen bombardiert, die bei vielen ungute Gefühle in Herz- und Magengegend hervorriefen. Zwischendrin versuchten einzelne Sprecher mit nichtssagenden Kurzstatements und mit Meldungen darüber, wo wieviele Busse in Staus steckengeblieben waren, die Leute bei Laune zu halten. Unter dem Strich gelang das auch der Schauspielerin Renan Demirkan nicht, die als Moderatorin engagiert worden war.

Endlich also, mit erheblicher Verspätung der Auftritt des ver.di-Voritzenden Bsirske. Jetzt kam die große Stunde der Trillerpfeifen, die Zeit des Luftablassens. "Wir haben die Schnauze voll", war der Grundtenor der Stimmung, die Bsirske mit seinen Ausführungen bei den Menschen hervorrief.

Auf inhaltliche Substanz abgeklopft, blieb ein Simpel-Weltbild, das der Gewerkschaftsvorsitzende wohl selbst nicht glaubt. Von Weltfinanz- und Wirtschaftskrise kein Satz. Die Welt sei eigentlich und im Prinzip in Ordnung, Deutschland nach wie vor Exportweltmeister. Die Unternehmen fahren weiterhin hohe Gewinne ein, und es gibt nach wie vor viel Geld und Reichtum in der Bundesrepublik Deutschland. Das einzige Problem sei die immer ungerechtere Verteilung dieses Reichtums - die berühmte Umverteilung von unten nach oben.

Wer bei dieser Analyse stehenbleibt, hat dann natürlich nichts anderes anzubieten, als den im Moment von Gewerkschaftsseite am meisten propagierten Lösungsansatz: "Holen wir uns das Geld da, wo es im Überfluß vorhanden ist, bei den Besserverdienenden und Superreichen." Kaum war Bsirskes Rede vorbei, begannen die Menschen abzuwandern oder sich einfach nur der frühlingshaften Sonne zuzuwenden. Die folgenden sieben Redner wurden jedenfalls kaum noch wahrgenommen.

Der schlimmste aller möglichen Fälle war eingetroffen. Die Menschen waren gekommen, sie hatten sich mobilisieren lassen. Aber was nahmen sie mit für die Fortsetzung der Mobiliserung in den nächsten Wochen und Monaten, wenn sich die Krise zuspitzen wird?

Das Eingreifen der BüSo

Weil dieser Ablauf der Kundgebungen vorhersehbar war, hatte sich die Vorsitzende der BüSo, Helga Zepp-LaRouche, bereits im Vorfeld der Gewerkschaftsmobilisierung in einem Offenen Brief an die Gewerkschaften gewandt. Sie hatte ihnen ins Gewissen geredet und gesagt: "Wenn ihr nicht den Mut habt, offen anzusprechen, was Regierungen und Bankiers längst wissen, daß nämlich das globalisierte Finanzsystem am Ende ist, wird die Mobilisierung in Demoralisierung enden! Sie wird letztendlich nicht dazu beitragen, daß die Systemkrise überwunden wird."

Der Offene Brief hatte dann klar und unmißverständlich die Entscheidung angesprochen, vor der die Institutionen in Deutschland wieder stehen: In den 30er Jahren stand die faschistische Wirtschaftspolitik eines Hjalmar Schacht gegen Roosevelts New Deal. Heute steht die Politik des IWF und der Banken gegen den Ansatz der BüSo und die Politik Lyndon LaRouches in den USA: Ausstieg aus der Kasinowirtschaft der Globalisierung, Aufbau eines neuen, regulierten Finanzsystems nach dem Vorbild von "Bretton Woods", das die realwirtschaftliche Entwicklung in der Tradition Franklin Delano Roosevelts, Lautenbachs und Woytinskys fördert.

Während der Kundgebungen in Berlin, Köln und Stuttgart wurden 100 000 Exemplare eines Extras mit diesem Offenen Brief verteilt. Die Reaktionen vieler Menschen machten deutlich, daß offensichtlich die Gewerkschaftsbasis mehr verstanden hat als ihre Führung. Spontan reagierten viele auf die Überschrift des Extras "Das globale Finanzsystem ist am Ende!" mit dem Satz: "Das weiß ich schon lange..."

Mitten auf dem Stuttgarter Schloßplatz hing an einem Pavillon ein Banner der BüSo mit der Aufschrift "Roosevelt statt Schacht! - Wir brauchen jetzt LaRouches New Deal", wodurch sich Gelegenheiten zu lebhaften Diskussionen ergaben, in denen einige Gewerkschafter ihren Unmut darüber äußerten, daß sie über die interessante wirtschaftspolitische Debatte in den 30er Jahren von ihren Gewerkschaften nichts erfahren.

Die Gewerkschaftsführung in Deutschland hat am 3. April eine Riesenchance vertan, einen Beitrag zu einer realistischen Diskussion um die Lösung der globalen Systemkrise zu leisten. Die Gefahr ist groß, daß viele Gewerkschafter sich in den zunehmenden sozialen Spannungen der Verteilungskämpfe demoralisiert aus den Gewerkschaften zurückziehen, ja schlimmer noch, sich rechten, dumpf populistischen Gruppierungen zuwenden. Die BüSo jedenfalls ist sich ihrer Verantwortung bewußt und wird alles daran setzen, einen Durchbruch in der wirtschaftspolitischen Debatte in Deutschland zu erreichen.


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