August 2006:

Bildungskollaps: Eine Brandrede

Rosa Tennenbaum
Die Autorin Rosa Tennenbaum, aus Baden-Württemberg stammend, befaßt sich mit den Ursachen für den makabren Zustand des deutschen Bildungswesens. Sie schildert die Absichten und verheerenden Folgen der Bildungsreformen nach 1947 und 1968 und stellt zugleich dar, was Bildung eigentlich sein sollte. Die Konzepte dazu gibt es mit den Humboldtschen Bildungsplänen schon seit fast 200 Jahren und sie können, richtig angewandt, auch heute wieder zum Erfolg führen.

Herr LaRouche verfaßte im Oktober des letzten Jahres einen Aufsatz mit dem Titel "The present dark age in education - Das gegenwärtige finstere Zeitalter in der Erziehung", eine Aussage, die haargenau unsere Verhältnisse trifft. Der Weckruf, der die Republik in Alarmstimmung versetzte, ging von Berlin aus, ist aber keineswegs auf die Hauptstadt beschränkt. Und es betrifft auch nicht nur die Hauptschule, obwohl dort die Probleme sich in einer besonderen Art und Weise ballen. Unser gesamtes Bildungssystem liegt im Todeskampf, und entweder wir reißen das Ruder endlich herum, oder wir werden uns gegenseitig in einem darwinistischen Kampf ums Dasein aufreiben.

Die aktuelle Bildungskrise Berlins Bildungssenator Klaus Böger (SPD) hat recht, wenn er sagt, die Schule sei "der Ort, an dem gesellschaftliche Fehlentwicklungen aufeinanderprallen". Seine eigene Partei hat kräftig an diesen Fehlentwicklungen mitgewirkt, ganz besonders in der Schule. Berlin liegt zusammen mit Bremen und Nordrhein-Westfalen bei allen relevanten Erhebungen über Bildung auf den letzten Plätzen. Jeder zweite Hauptschulabgänger gilt als nicht ausbildungsfähig - nach neun Jahren Schule, wohlgemerkt. Selbst die Kulturtechniken Schreiben, Lesen, Rechnen werden mangelhaft beherrscht, hinzu kommen Schwächen beim Sprechen, in der Allgemeinbildung und im sozialen Verhalten. Diese Jugendlichen liegen um Jahre in ihrer Entwicklung zurück. Weitere 42 % werden von der IHK als beschränkt ausbildungsfähig bewertet, d.h. daß sie Zusatzmaßnahmen während der Lehre brauchen.

Nur 5 % der Hauptschulabgänger gelten als uneingeschränkt ausbildungsfähig. Wenn sie denn einen Ausbildungsplatz finden, was in der Regel nicht gelingt. Es gibt ganze Schulen in Berlin, an denen kein einziger Abgänger eine Lehrstelle findet. Die Ausbildungsquote beträgt national 56 % für deutsche und 25 % für ausländische Hauptschüler. In Bezirken wie Neukölln, das durch die Rütlischule berühmt wurde, wächst bereits in vielen Familien die dritte Generation in Arbeitslosigkeit heran - ohne Aussicht auf Besserung, ohne jegliche positive Perspektive.

Die einzige "Zukunftsperspektive" für Jugendliche in diesen Bezirken ist eine Karriere als Krimineller. Wenn ihnen die Gesellschaft jede Aussicht, sozial aufzusteigen verwehrt, suchen sie im Milieu Anerkennung. Und da gelten andere Regeln. Je negativer man auffällt, je brutaler man die Regeln verletzt, je häufiger man mit der Polizei zu tun hat, desto größer der Respekt im Kiez. Das gilt für das Verhalten in der Schule gleichermaßen, denn die "Schule ist für sie auch Schauplatz im Machtkampf um Anerkennung. Der Intensivtäter wird zum Vorbild. Es gibt für sie in der Schule keine positiven Vorbilder. Sie sind unter sich und lernen Jugendliche, die anders leben, gar nicht kennen", heißt es im Brandbrief des Lehrerkollegiums der Rütlischule, der deutschlandweit Schlagzeilen machte.

Auch in der Schule geht es darum, viel "Streß zu machen", wie man das nennt. Da wird der Unterricht für Lehrer und Schüler zum reinen Nervenkrieg. "In vielen Klassen ist das Verhalten im Unterricht geprägt durch totale Ablehnung des Unterrichtsstoffes und menschenverachtendes Auftreten. Lehrkräfte werden gar nicht wahrgenommen, Gegenstände fliegen zielgerichtet gegen Lehrkräfte durch die Klassen, Anweisungen werden ignoriert. Einige Kollegen/innen gehen nur noch mit dem Handy in bestimmte Klassen, damit sie über Funk Hilfe holen können", so beschreiben die Lehrer den Unterricht. Wenn irgend möglich, gehen ohnehin gleich zwei Lehrer in eine Klasse. "Teamteaching" nennt sich das beschönigend; der eine Lehrer versucht, die Klasse in Schach zu halten, während der andere sich bemüht, Unterricht zu geben.

Die Arbeitslosigkeit ist ein wesentlicher Faktor des Problems, das die Bürgerrechtsbewegung Solidarität (BüSo) mit ihrer Forderung, daß Berlin wieder Industriestadt werden müsse, angeht. "Welchen Sinn macht es, daß in einer Schule alle Schüler/innen gesammelt werden, die weder von den Eltern noch von der Wirtschaft Perspektiven aufgezeigt bekommen, um ihr Leben sinnvoll gestalten zu können?" fragen die Lehrer der Rütli-Schule. "In den meisten Familien sind unsere Schüler/innen die einzigen, die morgens aufstehen. Wie sollen wir ihnen erklären, daß es trotzdem wichtig ist, in der Schule zu sein und einen Abschluß anzustreben?" Allerdings. Unsere Gesellschaft muß den Heranwachsenden die Aussicht bieten, daß sie ihre Lage und die ihrer Familien verbessern können, wenn sie sich entsprechend anstrengen. Sie muß ihnen berufliche und soziale Aufstiegschancen eröffnen, sonst wird sich in den Schulen nichts ändern können. Die Lösung der Arbeitslosigkeit ist die Voraussetzung, daß sich in der Bildung irgendetwas bewegen läßt. Die Klagen über niedriges Bildungsniveau beschränken sich nicht auf die Hauptschule, sie gelten für alle Schulen, auch das Gymnasium. Die Abiturienten können zwar in der Regel lesen und schreiben, aber die Universitäten sind längst dazu übergegangen, den Erstsemestern erst einmal die Grundkenntnisse beizubringen, bevor sie sich dem eigentlichen Studium widmen können. Das gilt nicht nur für die Naturwissenschaften, es gilt auch für die Geisteswissenschaften. Jeder zweite Germanistikstudent gibt an, daß er nur ungern lese, und drei Viertel haben noch nie etwas von Goethe, Schiller oder Lessing gehört, geschweige denn gelesen.

Symptome der Verwahrlosung

Das Problem beginnt schon vor der Hauptschule in den Familien. 64 % der eingeschulten Kinder, also mit etwa sechs Jahren, zeigen erhebliche Entwicklungsstörungen. Jedes zweite dieser Kinder kann nicht einmal richtig sprechen, sein Sprachentwicklungsstand verharrt auf dem eines Zweijährigen. Warum? Weil wir nicht mehr miteinander reden. Ehepaare sprechen rund acht Minuten am Tag miteinander, mit ihrem Kind sieben Minuten. Fernsehkinder lernen gar nicht sprechen. Das gilt für deutsche wie für ausländische Kinder gleichermaßen. Wir werden eine Gesellschaft von Autisten.

Es wird viel über den Ausländeranteil in den Klassen gesprochen, der ein Problem darstellt. Auch an Gymnasien gibt es Klassen, in denen der Lehrer der einzige Deutsche ist. Wichtiger aber ist die wachsende Zahl von Kindern aus sozial schwachen und bildungsfernen Schichten. Unsere Gesellschaft verarmt und verblödet, und ein wesentlicher Grund dafür sind die elektronischen Medien. Männliche deutsche Hauptschüler verbringen vier bis fünf Stunden täglich vor dem Fernseher, ausländische fünf bis sechs. Jeder zweite Zwölfjährige hat einen eigenen Fernseher auf seinem Zimmer; das ist in der Regel das Ende der Schullaufbahn. Von den Kindern, die keinen eigenen Fernseher haben, bekommt jedes zweite eine Empfehlung für das Gymnasium, bei denen mit eigenem Fernseher ist es genau umgekehrt: 42 % dieser Kinder bekommen eine Empfehlung für die Hauptschule.

Trotzdem nimmt die Rolle der elektronischen Medien auch im Unterricht ständig einen breiteren Raum ein. Die Qualität der Bildung wird nicht zuletzt an der Anzahl der Computer im Klassenzimmer gemessen. In Berlin-Friedrichshain wurde zum Beginn dieses Jahres die erste "Laptop-Klasse" eingerichtet: Die siebte Klasse der Georg-Weerth-Realschule lernt nur noch am Computer. Es gibt weder Heft noch Buch noch Bleistift, auf dem Lehrerpult stehen Beamer, zwei Hightech-Lautsprecher, ein Drucker und eine Kamera. Jeder Schüler sitzt da und starrt fasziniert auf den Bildschirm, ein treffendes Abbild unserer Gesellschaft. Der Begriff von Lernen und Lehren wandelt sich grundsätzlich: Man lernt nicht mehr zusammen, und man braucht sich nicht mehr anzustrengen. Per Mausklick zaubert man sich die gesamte Welt des Wissens auf den Bildschirm. Lernen wird zum rein passiven Akt, bei dem man sich nur möglichst geschickt durch das Internet klicken muß. Der Lehrer wird zum Lernberater; er unterrichtet nicht mehr, er soll den Schülern lediglich helfen, mit ihren Computern zurechtzukommen.

Es ist sicher richtig, daß Jugendliche lernen, mit dem Computer umzugehen, die Frage ist nur, wann man ihnen das zumuten darf. Die Dreizehnjährigen seien ganz begeistert und mit Eifer bei der Sache, berichten die Lehrer. Wenn sie sich erst einmal im Internet zurechtfinden, dann werden sie sicher nicht nur die lesenswerten Seiten aufsuchen, sondern auch die oder vielleicht bevorzugt die, die unter den Kinder- und Jugendschutz fallen. Eine Schlüsselfrage lautet, wann darf man dem Heranwachsenden diese Verantwortung übertragen? Wann kann man erwarten, daß er reif genug ist, solchen Verführungen zu widerstehen? Sicher nicht mit dreizehn Jahren, in diesem Alter braucht er noch die Fürsorge der Erzieher für seine geistige und seelische Entwicklung. Außerdem soll die Schule in erster Linie den Kindern Denken beibringen, und dafür ist der Computer hinderlich.

Doch es gibt nicht nur das Internet und den Fernseher, es gibt die Game Boys und die Handys, auf denen man jetzt auch Videos abrufen kann. Der Schlager auf den Pausenhöfen zur Zeit sind die sogenannten Snuff-Videos (von to snuff = vernichten), und sie grassieren gerade in dieser Altersgruppe. Das sind extrem brutale Videos mit Enthauptungsszenen, Szenen, in denen Menschen auf grausamste Weise gefoltert und getötet werden, Pornofilme, Sex mit Tieren. Die Schüler schicken sich diese Filme per SMS zu. Die vier Dreizehn- und Vierzehnjährigen, die jüngst eine sechzehnjährige Mitschülerin vergewaltigten, haben sich offenbar davon inspirieren lassen. Sie filmten die Tat auch noch mit ihren Handys, um sie stolz in ihrem Rudel herumzuzeigen. Die meisten der Gewaltexzesse von Jugendlichen, die Berlin in den letzten Wochen in Angst und Schrecken versetzen, kopieren entsprechende Vorlagen von Gewaltvideos.

Die Erzieher sind von den Snuff-Videos schockiert, die Politiker empört. Die Jugend habe keine Werte mehr, wird geklagt. Woher soll sie sie denn haben? Von uns etwa, von den Erwachsenen? Welche Werte haben wir denn? Schauen wir uns die Erwachsenenkultur einmal an.

Müll-Kultur und Ekel-Theater

Das alljährliche Theatertreffen in Berlin bezeichnet sich als "Leistungsschau der deutschsprachigen Bühnen". Dieses Jahr wurde es mit Macbeth von William Shakespeare in einer "infernalischen Inszenierung" von Jürgen Gosch vom Düsseldorfer Schauspielhaus eröffnet. Die Berliner Morgenpost widmete diesem Ereignis gleich zwei ausführliche Artikel, denen die folgenden Sätze entnommen sind: "Kanister voller Theaterblut und -kot..., eine Horde nackter Kerle, die sich gegenseitig schlachten." "Das Szenario schwimmt in Körperausscheidungen. Die kahle schwarze Kastenbühne liegt bald da wie ein einziges Gomorra. Die Hexen, ebenfalls von den Männern verkörpert, kacken unter unsäglichen Blähungen Schoko-Scheiße. Sie urinieren Marken-Mineralwasser. Vor allem aber: sie überschütten sich mit roter Blutsuppe aus großen Flaschen... Man tritt nicht auf oder ab. Man schliddert sich durch."

Was sagt der Künstler selbst dazu? Größte Kunst auf dem Theater sei, den Eindruck von Gesetzlosigkeit zu erwecken. Erst "rigorose Schamlosigkeit, ungeniertes Sich-Gehen-Lassen" der Schauspieler mache das Theater stark. Gesetzlosigkeit, Schamlosigkeit, keine Regeln einhalten, nichts anderes machen die Jugendlichen, über die wir uns so gern empören, während wir das hier beklatschen. Natürlich hat Gosch auch keine Hemmungen, "den Autorentext mit Schmutzfingern zu begrapschen".

In der Schaubühne gibt es Schillers Maria Stuart zu sehen. Die beiden Königinnen befinden sich noch in der Pubertät, lutschen am Finger, treiben Späßchen mit dem Personal und versuchen sich zwischendurch als Huren. Es wird geflennt, gerotzt, selbstverständlich uriniert, man tituliert sich gegenseitig als "Arschloch", verabschiedet sich mit "Schönen Tag noch!" und kommentiert die sportlichen Einlagen und allerlei Witzchen mit "Ey - toll!" oder "Halt die Klappe" - so wie auf dem Schulhof in der großen Pause.

Auch die Oper ist kein Ort mehr, an dem man sich dem reinen Kunstgenuß hingeben kann, da werden neben Singen ganz andere Fertigkeiten verlangt. In der Komischen Oper können Sie den Sängern in Mozarts Entführung aus dem Serail beim Oralsex zusehen. Die Berliner Morgenpost schreibt: "Eine Riesenklamotte... Mozart (wird) hemmungslos ins Rotlichtmilieu ausgelagert. Pausenlos lassen die Männer die Hosen fallen, ziehen sich splitternackt aus. Fortgesetzt geht es den Mädchen an die Mini-Wäsche, was sie freilich am Ariensingen nicht hindert... Es wird herumgeballert auf Deibel komm raus. Blut fließt in Strömen und zwar im wahrsten Sinne des Wortes pausenlos... Kein Wunder, daß so wenig Klienten in Bassa Selims Glaskasten-Bordell kommen, in dem offenbar vor allem die Betreiber in aller erdenklicher Sexualgier sich verlustieren. Es schweint, als habe Mozart... ein Handbuch der Sexualpraktiken auskomponiert..."

An der Staatsoper Unter den Linden baumeln in Verdis Oper Don Carlos an den Füßen aufgehängte, nackte Männer von der Decke herab. Die Liste ließe sich fortsetzen. Wir warten nun gespannt auf den Tag, an dem die Berliner Philharmoniker endlich die Hosen fallenlassen. Ekel-Theater ist ein fester Begriff dieser Sparte geworden, und man huldigt ihm gnadenlos. Hoch subventioniert mit Steuergeldern leben hier Spielleiter und Schauspieler ihre kranken Phantasien aus - und das Publikum strömt hin. Als das Regietheater Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre erste Blüten trieb, waren die Häuser im Nu leer gespielt, heute sind diese Vorstellungen die Publikumsmagnete. Man braucht nicht mehr ins Bordell zu gehen, was doch immer ein wenig anrüchig ist, man setzt sich in teurer Garderobe und in bester Gesellschaft ins Parkett und entspannt sich bei der Peep-Show.

Gehen Sie in die Flick-Ausstellung zeitgenössischer Kunst im Hamburger Bahnhof. Was sie dort sehen, ist harte Pornographie und Belanglosigkeiten. Oder schauen Sie sich das politische Spitzenpersonal dieser Stadt an. Ein Photo von der letzten Berlinale zeigte den Regierenden Bürgermeister Wowereit mit seinem Lebensgefährten auf dem Schoß eines (männlichen, versteht sich) Filmstars sitzend. Dabei haben sie sich prächtig amüsiert. Auf der Party nebenan knutschte Martin Lindner, der Berliner Vorsitzende und Spitzenkandidat der FDP für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus, ungeniert mit irgendeiner Schönen. Der Mann ist verheiratet. In den Sonntagsreden lassen die gleichen Politiker die Familie hochleben, schwadronieren von Anstand, Verläßlichkeit, Respekt. Wir wollen Werte vermitteln, wo wir doch selbst keine haben?

Unsere Gesellschaft ist krank, schwer krank, und was wir zur Zeit aus den Schulen hören, ist davon nur ein Ausdruck. Es ist der bisherige Endpunkt einer Entwicklung, die gleich nach dem Kriege begann.

Die Bildungsreform von 1947

Die Nationalsozialisten hatten schon versucht, die humanistische Bildung auszuhebeln, doch glücklicherweise war die Zeit zu kurz, um den Bruch mit der deutschen Bildungstradition vollziehen zu können. Auch nach dem Krieg genoß das deutsche Bildungssystem einen hervorragenden Ruf weltweit. Ein Gelehrter, so sagte man im Ausland noch in den 60er Jahren, sei in der glücklichen Lage, zwei Vaterländer zu haben: sein eigenes und Deutschland, denn gleichgültig, auf welchem Spezialgebiet ein Wissenschaftler arbeitete, der Boden war zum erheblichen Teil von deutschen Wissenschaftlern bereitet worden. Leider knüpften die Besatzungsmächte nicht an dieser Tradition wieder an, im Gegenteil, sie verlangten einen radikalen Bruch. In der Kulturabteilung der US-Besatzungsmacht kam es zu einem heftigen Fraktionskampf, in dem sich leider diejenigen durchsetzten, welche die Deutschen von ihrer klassischen Kultur abschneiden und das Bildungswesen unter dem Vorwand der "Demoratisierung" zerstören wollten.

Unmittelbar nach dem Krieg befahl die amerikanische Besatzungsmacht, das deutsche Bildungssystem zu "demokratisieren". Das dreigliedrige Schulsystem sei unvereinbar mit den Prinzipien einer demokratischen Gesellschaft. In der Direktive 54 aus dem Jahr 1947 verlangten alle vier Militärgouverneure in scharfem Ton Reformen: Verlängerung der Grundschulzeit auf sechs Jahre, Aufhebung der Dreigliedrigkeit und Einführung der Einheitsschule lauteten die Schlüsselforderungen. Die Schule müsse ein Lern- und Lebensraum werden, der an den Bedürfnissen der Schüler auszurichten sei. Die deutsche Schule sei zu theoretisch, zu wissenschaftlich und zu wenig praxisorientiert. Das klingt hoch aktuell, die UNO und zahlreiche internationale Bildungsstudien verlangen heute wieder genau das.

Hinter der Direktive 54 stand Erich Hylla, der Gründer und erste Leiter der Hochschule für Internationale Pädagogische Forschung in Frankfurt am Main. Hylla war in die USA emigriert und wurde 1946 Fachberater beim Chef der Erziehungsabteilung des US-Militärgouverneurs für Deutschland. Er war eine der treibenden Kräfte hinter der Umerziehung. Als Anhänger und Übersetzer des amerikanischen Reformpädagogen John Dewey vertrat Hylla die Auffassung, Erziehung habe weder höhere Werte noch Moralvorstellungen zu vermitteln, sondern müsse das Kind an das soziale Leben anpassen. Er wollte die Gesamtschule für alle Kinder nach amerikanischem Vorbild einführen und die Universitäten rasch demokratisieren. Er wollte den klaren Bruch mit der deutschen Bildungstradition.

Schon damals bildeten sich die Frontlinien, die wir heute noch kennen: Hessen und Bremen machten sich sofort an die Umsetzung, Bayern mauerte. 1950 wurde in Berlin der Kongreß für kulturelle Freiheit gegründet, eine Kampforganisation für moderne Kunst, die der CIA großzügig finanzierte. Der Kongreß organisierte große Ausstellungen für moderne Kunst und Konzerte und Tagungen über moderne Musik, die beide in Deutschland ein Schattendasein führten. Man wollte einen Gegenpol zur klassischen Kultur, die immer noch hegemonial war, aufbauen. Die Deutschen waren mit Plato und Leibniz, mit Goethe und Schiller, mit Beethoven, Bach und Mozart aufgewachsen, entsprechend gering achteten sie die moderne Kunst.

Eskalation in den 60er Jahren

Man mußte eskalieren. Am 16. April 1966 hielt Theodor Adorno eine Rede im Hessischen Rundfunk mit dem Titel: "Erziehung nach Auschwitz". Zum obersten Ziel der Erziehung postulierte er, "daß Auschwitz nicht noch einmal sei". Dazu müsse der gesamte Unterricht in Richtung Gesellschaftspolitik umgerüstet werden. Erziehung müsse bewußt machen, daß "die Zivilisation das Antizivilisatorische hervorbringt und es zunehmend verstärkt". Demnach wäre es wohl besser gewesen, die Menschheit wäre gleich auf den Bäumen sitzengeblieben und hätte gar keine Zivilisation entwickelt. Autorität setzte Adorno mit Barbarei gleich. Erziehung müsse aufzeigen, daß in jedem von uns ein Barbar, ein Auschwitzknecht wohne. Das gesamte kulturelle Bewußtsein müsse von "der Ahnung des pathogenen Charakters, der zu Auschwitz führte, durchdrungen" werden. Adorno verlangte, daß der gesamte Unterricht von Auschwitz aus aufgerollt und beurteilt werde. Diese Rede war der Startschuß für die Schulreformen in den alten Bundesländern und lag schon wenige Tage, nachdem sie gehalten wurde, gedruckt vor und wurde massiv verbreitet und diskutiert.

1968 folgten die Studenten dem Ruf von Herbert Marcuse, Adorno und Habermas, den Vätern der Frankfurter Schule, zur "großen Verweigerung". Die Studentenbewegung war eine antiautoritäre Massenbewegung, die sich bereitwillig ihrer kulturellen und geschichtlichen Wurzeln entledigte. Nun kam der Marsch in die Rock-, Drogen-, Sexkultur, der Wertewandel, den schon die Besatzungsmächte gefordert hatten, setzte massiv ein. Jede Form von Autorität wurde als faschistisch abgelehnt, klassische Kultur mit ihren klaren Kompositionsregeln ebenfalls. Adorno prägte den Satz, daß Goethe und Schiller am Faschismus schuld seien, weil sie so schöne Gedichte geschrieben hätten, so daß die Deutschen lieber Gedichte gelesen als sich um Politik gekümmert hätten.

Nun begann ein richtiges Trommelfeuer, in dessen Zentrum die Schulen und die Universitäten standen. Nun wurde "demokratisiert": alles, was irgendwie mit Autorität, mit Können, mit Leistung zu tun hatte, wurde gebrandmarkt. Leistung, so lehrte Marcuse, sei Zwang, und Zwang sei abzulehnen, und Oskar Lafontaine prägte den denkwürdigen Satz: "Leistungsbereitschaft ist eine Voraussetzung, um KZs zu bauen." Die Schulen wurden zum Versuchsfeld linker Utopien; sie sollten nicht weiter Ort der Wissensvermittlung sein, sondern Ort der Gesellschaftsveränderung werden. Es sollten keine Inhalte mehr vermittelt, sondern Verhalten trainiert werden. Lehrer sollten Vorkämpfer für eine bessere Gesellschaftsordnung sein, nicht Erzieher junger Menschen. Um diese Thesen umzusetzen, wurde eine neue Schule gegründet, die Gesamtschule.

Die Gesamtschule sollte der Ort werden, an dem der neue Mensch für eine demokratische, klassenlose Gesellschaft herangezogen wurde. Tatsächlich aber war sie das Versuchsfeld für die rasch wechselnden pädagogischen Moderichtungen, die alle ausnahmslos fehlschlugen. Die Gesamtschule ist die teuerste Schulform (je Schüler werden durchschnittlich 30 % mehr ausgegeben als im dreigliedrigen Schulsystem) und die schlechteste. Das Abitur an der Gesamtschule liegt in allen Fächern unterhalb des Leistungsniveaus eines Realschulabschlusses, und die gleichen schulischen Leistungen werden an der Gesamtschule mit zwei und mehr Noten besser bewertet. Auch was soziales Lernen, das ureigenste Anliegen der Gründer der Gesamtschule, betrifft, kann die neue Schulform mit den anderen nicht mithalten. Die Ursachen dieser niederschmetternden Ergebnisse liegen in den falschen Grundsätzen, auf denen die Reformer die Gesamtschule aufbauten. Ihnen ging es um Gesellschaftsveränderung und nicht um den Schüler.

Leistungsverweigerung und Disziplinlosigkeit des Schülers galten den 68ern als besonders fortschrittlich. Diese Verhaltensweisen seien "eine Form von Protest gegen die bestehenden gesellschaftlichen Strukturen... Der Disziplinbegriff, der auf die Einhaltung und Kontrolle der herrschenden Normen bezogen ist, ist falsch. Unter Disziplin sind all jene Verhaltensqualitäten zu verstehen, die dazu befähigen, die herrschenden gesellschaftlichen Widersprüche zu überwinden", heißt es in dem damals sehr einflußreichen Band "Strategisches Lernen in der Gesamtschule".

Lernverweigerung der Schüler, so schrieb die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in ihrem Organ Deutsche Schule, sei "als positives Signal alternativer Wertvorstellungen zu begreifen". Die GEW verbreitet immer noch solche Thesen. In der Gesamtschule konnten sich die Reformpädagogen so richtig austoben, auf Kosten der Schüler und zu Lasten dieser Schulform, deren Ruf man von vornherein ruinierte. Chancengleichheit lautete ein zentrales Anliegen, das man in der Gesamtschule verwirklichen wollte, doch nicht, indem man den schwächeren Kindern half, gute Leistungen zu erarbeiten, sondern indem man die Ansprüche an den Schüler immer weiter absenkte. Erziehung sollte abgeschafft, die Schule zum erziehungsfreien Raum, in dem das menschliche Bedürfnis nach Zuneigung und Anerkennung befriedigt wird, deklariert werden - Kuschelpädagogik nennt man das heute.

Sachunterricht galt als überholt, die angestrebte nachindustrielle Gesellschaft brauchte keine fachlichen, nur noch soziale "Kompetenzen". An die Stelle von Lehrplänen traten Leerformeln wie die folgende aus dem Lernzielkatalog Schleswig-Holsteins: Jedes Fach sei nach seinem Beitrag zu den fünf Kernproblemen zu bewerten, die da lauten: Frieden, Umwelt, Fortschritt, Gleichstellung und Prävention. Als Lernziel seien Verhaltensqualitäten zu erreichen, "von denen die Gesellschaft wünscht, daß der Lernende sie erwirbt. Die ideale Lernzielangabe bestünde in... der Bezeichnung jener Verhaltensweisen des Lernenden, die als manifeste Anzeichen der Lösung gelten sollen." In diesem Ton geht es weiter, eine Leerformel jagt die andere. Tausende von Lehrplanern, die in den entsprechenden Einrichtungen der Länder arbeiteten, haben eine Direktive nach der anderen verfaßt, aber sie haben nicht einen einzigen konkreten Lehrplan entworfen.

Die Eltern aber zogen nicht mit. Sie wollten, daß ihre Kinder etwas lernten. Das machte sie den Reformpädagogen von vornherein verdächtig. Außerdem vererbten sie die sozialen Unterschiede an ihre Kinder. Christopher Jencks schrieb in seinem Buch Chancengleichheit, das Kultstatus erlangte: "Wenn eine Gesellschaft die Bindung zwischen Eltern und Kindern nicht vollständig abschafft, garantiert die Ungleichheit der Eltern ein gewisses Maß an Chancenungleichheit der Kinder." Die Bindung zwischen Eltern und Kindern vollständig abschaffen? Dann müßte man es machen wie in Sparta, dort wurden die Kinder im Alter von sechs Jahren den Eltern weggenommen und staatlich erzogen. Jencks machte Vorschläge, wie dieses Ziel dennoch zu erreichen sei: "Wenn sämtliche Arbeitgeber die Bewerber mit statusniedrigen Vätern bevorzugen würden, könnte die Korrelation zwischen dem Status von Vater und Sohn aufgebrochen und schließlich ausgeschaltet werden." Um mit Chancengleichheit schon in der Schule zu beginnen, sollten hochbegabte Kinder nur ein bis zwei Jahre unterrichtet werden, durchschnittlich begabte sechs Jahre und nur die langsamen Kinder ganze zwölf Jahre lang.

In dem Band Begabung und Lernen, herausgegeben von Heinrich Roth, wurde ausführlich erörtert, wie man verhindern kann, "daß Schüler mit günstigen Eingangsbedingungen und höherer Lerngeschwindigkeit sich in der freibleibenden Zeit zusätzliche Kenntnisse aneignen, die ihnen gegenüber den anderen, sozusagen einfach erfolgreichen Schülern doch wieder Leistungsvorteile sichern". Für Arbeiterkinder wurden Notengutschriften gefordert, für Schüler aus bürgerlichem Hause Abschläge. In Hessen wurde das sogar propagiert. Das zwingt einem Erinnerungen an Pol Pot und die Kulturrevolution in China auf. Das waren die Ideen, die in den Seminaren den Lehrern eingetrichtert wurden, damit wurden sie ausgebildet.

Den Reformpädagogen ging es nicht um den einzelnen Schüler, sondern um einen bestimmten gesellschaftlichen Zustand, der herbeigeführt werden sollte. Der Schüler an sich spielte überhaupt keine Rolle, er war lediglich Mittel zum Zweck des gesellschaftlichen Umbaus. Doch eben der läßt sich so nicht bewerkstelligen. Nur fundiertes Wissen, das Bewußtsein, daß ich selbständig denken und urteilen und deshalb unabhängig handeln kann, macht mich frei. Genau das aber sollte verhindert werden. Das Ideal der Reformpädagogik ist der unwissende und damit abhängige, lenkbare Mensch, der sich den sozialen Gegebenheiten, die er vorfindet, anpaßt, so, wie Hylla und die Besatzungsmächte es bei der Umerziehung gefordert hatten.

Bildung nur für die oberen fünf Prozent?

Wenn Sie sich heute wundern, wie die Lehrer der Rütlischule z.B. zulassen konnten, daß 30 Jugendliche, die lernunwillig sind und gerne "Streß machen", die restlichen 200 Schüler dauerhaft hindern können zu lernen, dann finden Sie die Antwort darauf in dem Alptraum der letzten 40 Jahre, der sich Schulreformen nennt. Die Lehrer wurden regelrecht gehirngewaschen und die, die nicht mitziehen wollten, wurden von der Schulverwaltung drangsaliert. Auch dazu gibt es in Berlin zahlreiche unrühmliche Beispiele.

Viel scheint man daraus nicht gelernt zu haben. Im Gegenteil, die aktuelle Diskussion ist eine Neuauflage, sie bewegt sich entlang der alten Kampflinien. Die GEW streitet immer noch für die Gesamtschule, mit den gleichen Argumenten und den nämlichen Methoden. Sie nutzt die zugespitzte Lage an den Hauptschulen aus, um sie ganz abzuschaffen. Dabei spricht man von der Hauptschule, doch eigentlich meint man das Gymnasium. Die Vorsitzende der Berliner GEW, Rose-Marie Seggelke, sagte im Radio, nicht nur die Hauptschule müsse verschwinden, sondern das Gymnasium gleich mit, denn es gäbe sonst immer Eltern, die ihre Kinder auf eine bessere Schule schicken würden. Es ist ihr also lieber, wenn alle auf eine schlechtere Schule gehen, als daß die, die immer unten standen, aufsteigen können. Das ist die Attitüde der 68er in Reinform. Der Kampf um die Gesamtschule ist wieder voll im Gange. Die SPD hat auf ihrem Landesparteitag ebenfalls die Abschaffung der Hauptschule in Aussicht gestellt, und auch die Linkspartei PDS kündigte das an. Als ob das das Problem lösen würde. Die Hauptschule in der Realschule aufgehen zu lassen, heißt, das Problem zu verlagern! Das einzige Resultat wäre die Abwertung der Realschule, und das können wir nun gar nicht gebrauchen. Stattdessen muß die Hauptschule aufgewertet werden, indem das Leistungsniveau nach oben gerissen wird. Die anhaltende Degradierung der Hauptschule zur Rest- und Ausländerschule hat auch die anderen Schulabschlüsse entwertet, sie muß ins Gegenteil verkehrt werden.

Es sind die gleichen Schlagworte wie in den 70er Jahren: Chancengleichheit! Fördern statt Auslesen! Das klingt gut, nur das Konzept dahinter stimmt nicht. Der Haß der Schulreformer gilt dem Gymnasium. Dieser Hort der bürgerlichen Erziehung, wo immer noch "Wissensballast" vermittelt wird, wo man immer noch der alten Bildungsidee nachhängt, soll endlich verschwinden. Ich bin nicht dagegen, daß alle Schüler auf ein und dieselbe Schule gehen, ganz im Gegenteil, aber dann muß es das höchste Niveau sein und nicht das miserabelste. Alle Kinder müssen am Wissen teilhaben dürfen, nicht nur die, deren Eltern sich einen Privatlehrer leisten können. Das ist der grundlegend falsche Ansatz der Reformpädagogik bis heute.

Was erwartet uns unter diesen Vorzeichen? Im Februar 1995 erschien in der London Times ein großer Artikel von Lord Rees-Mogg unter dem Titel "Society's dicey prospects". Der Lord ist selbst Mitglied des hohen Adels; er ließ in seinem Artikel die Öffentlichkeit wissen, wie die Oligarchie über die Bildung der Zukunft denkt. Zwei Prozent der Menschen seien gar nicht zu gebrauchen, sie lägen unterhalb der Grenze der "sozialen Brauchbarkeit", meint er. Weitere zehn Prozent seien "schwach"; dann kommt die große Masse der "Mittelmäßigen". Lediglich fünf Prozent seien "talentiert" und davon nur ganz wenige "genial". Die Industriegesellschaft brauchte alle, von den Schwachen bis zu den Genialen, die verschiedensten Talente und Fähigkeiten waren gefragt, was zu einem enormen Aufschwung in der allgemeinen Bildung führte. Die Wissensgesellschaft aber, auf die wir uns zubewegten, brauche die hochspezialisierten Fachleute. In Zukunft würden nur noch fünf Prozent der Bevölkerung für leitende Aufgaben in Wissenschaft und Gesellschaft benötigt, deshalb sollten auch nur fünf Prozent, doch die ganz hervorragend, ausgebildet werden, meint der Lord. Die Gesellschaft könne sich Bildung für alle gar nicht mehr leisten, deshalb müsse sie ihre Anstrengungen auf die fünf Prozent "Talentierten" beschränken.

Die restlichen 95 Prozent der Menschen muß man dann irgendwie ruhig stellen - mit primitiver Unterhaltung und einem Minimum an Sozialhilfe; Aldous Huxley hat das in seinem Roman Schöne neue Welt vorgemacht. Das ist das Bildungsideal der Oligarchie. Alle sogenannten Reformen an den Schulen und Universitäten bewegen sich auf diese Forderung zu. Die staatlichen Bildungsanstrengungen werden immer deutlicher auf die sogenannten Hochbegabten konzentriert, während der Rest immer mehr vernachlässigt wird. Die jüngste Exzellenteninitiative für die Hochschulen trägt diese Handschrift überdeutlich: Einige ausgesuchte Universitäten erhalten erheblich mehr Geld und werden zu Eliteeinrichtungen, die dann auch aus der Wirtschaft die Forschungsaufträge erhalten werden, so daß der Staat sich aus der Finanzierung zurückziehen kann. Sie werden künftig entsprechend hohe Studiengebühren erheben können. Die restlichen Universitäten werden ausgehungert und zu Einrichtungen zweiter Wahl abgewertet, die die durchschnittlich begabten und weniger gut betuchten Studenten aufnehmen werden.

Die Schulreformen haben auf dieses Ziel hingearbeitet. Die meisten Reformer hatten vielleicht gute Absichten, aber das reicht eben nicht. Sie haben das Gegenteil von dem erreicht, was sie angeblich wollten. Unter dem Schlagwort Chancengleichheit ist das Leistungsniveau so abgesenkt worden, daß Bildung wieder eine Frage der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Schicht geworden ist. Nach vierzig Jahren Schulreformen sind wir in der Zeit vor Humboldts Bildungsreform angekommen, einer Zeit, in der nicht der Bildungsstand, sondern die soziale Herkunft entschied. Erst Humboldt hat das radikal geändert.

Humboldts Bildungsidee

Wilhelm von Humboldt wurde im Februar 1809, in der großen Notlage Preußens nach dem verlorenen Krieg gegen Napoleon, zum Leiter der Sektion Kultus und Unterricht berufen. Im Mittelpunkt aller seiner Überlegungen stand der Mensch, dessen Aufgabe es sei, alle seine Fähigkeiten und Anlagen optimal auszubilden. Alle Kinder sollten diese Möglichkeit bekommen, also mußten alle die gleiche Erziehung erhalten. Sein Grundsatz lautete: "Die Erziehung soll nur, ohne Rücksicht auf bestimmte, den Menschen zu erteilende bürgerliche Formen, Menschen bilden." Erziehung habe nicht die Aufgabe, auf einen künftigen Beruf oder das Universitätsstudium vorzubereiten, ihr alleiniger Zweck sei die Bildung des Heranwachsenden zum schönen Charakter.

Wilhelm sprach immer von der Bildung des ganzen Menschen. Alle Kräfte und Anlagen, unsere geistigen, wie unsere emotionalen, müßten geübt werden. Die "höchste, proportionierliche Bildung des Menschen" erfordere, daß jede Einseitigkeit in der Bildung vermieden wird. Der Geist konnte nur harmonisch ausgebildet werden, wenn der Schüler gleichmäßig in allen Fächern teilnahm. Er sollte nicht zu früh seine Lieblingsfächer bevorzugen. Ein Kurssystem, wie wir es lange Zeit praktiziert haben, vernachlässigt andere Fähigkeiten und wird dazu führen, daß der Mensch bald auch in seinem Spezialfach nicht mehr weiterkommt. So entstehen bestenfalls Brotgelehrte, wie Schiller es nannte, aber sicher keine philosophischen Köpfe.

Jede Form von Berufsorientierung lehnte Wilhelm radikal ab: "Alle Schulen müssen nur allgemeine Menschenbildung bezwecken. - Was das Bedürfnis des Lebens oder eines einzelnen seiner Gewerbe erheischt, muß abgesondert, und nach vollendetem allgemeinem Unterricht erworben werden. Wird beides vermischt, so wird die Bildung unrein, und man erhält weder vollständige Menschen noch vollständige Bürger einzelner Klassen." Natürlich mußte jeder irgendwann sein eigenes Brot verdienen, doch das war nicht der Zweck der Schule. Die Schulzeit ist der einzige freie Raum im Leben eines Menschen, hier sollte der zukünftige Professor, wie der angehende Handwerker eine freie, geistige Welt kennenlernen, bevor das Leben ihm Fesseln anlegte.

"Dieser gesamte Unterricht kennt daher auch nur ein und dasselbe Fundament. Denn der gemeinste Tagelöhner und der am feinsten Ausgebildete muß in seinem Gemüt ursprünglich gleich gestimmt werden, wenn jener nicht unter der Menschenwürde roh, und dieser nicht unter der Menschenkraft sentimental, chimärisch und verschroben werden soll." Außerdem, so meinte Humboldt, sei es durchaus sinnvoll, wenn der Tischler etwas von Griechisch verstehe, so wie es dem Professor nicht schade zu wissen, wie man Tische drechsle.

Die Schule ist keine Agentur für Wissensvermittlung, wie sie von der Wirtschaft gefordert wird. Wobei Humboldt sehr viel Wissen verlangte. Die Anforderungen waren so hoch, daß z.B. Friedrich August Wolf, der berühmte Graezist, meinte, die Abiturprüfung in Altgriechisch hätte sogar er Schwierigkeiten, zu bestehen. Jede Andeutung von Nützlichkeitsdenken wurde aus dem Unterricht verbannt. Man lernte nicht Sprachen, weil das für die berufliche Karriere hilfreich war, sondern um den Sprachbau zu studieren. Jede Sprache drückt eine andere Sicht der Welt aus, das galt es zu erforschen und damit seine eigene Sprache kennenzulernen und sein Denken zu entwickeln. Nützlich war es denn auch noch, aber das war nicht das Ziel.

Es wurde sehr viel Sachwissen vermittelt, aber immer in Hinblick auf die Entwicklung des Denkens und der Persönlichkeit und nicht in Hinblick auf den künftigen Beruf, die angepeilte Karriere. An die Stelle von mechanischem Auswendiglernen trat selbständiges Arbeiten und das geistige Erfassen der Dinge. Jeder Unterrichtsgegenstand sollte "auf eine die Empfindung stark bewegende Weise" behandelt werden. Begeisterung, lautete Wilhelms Rezept, Herz und Verstand sollten für große Ideen entflammt werden. Nur so lernt man, nicht indem man im Internet herumklickt. Auch der heutige Heranwachsende ist kein Computer, er will als ganzer Mensch erfaßt und gewürdigt werden. Das Interesse des Lehrers an der Sache, die er dem Schüler beibringen soll, und seine lebhafte Teilnahme an allem, was den Schüler bewegt, ist der wesentliche Aspekt des Lernens. Genau an diesem mangelt es heute am meisten. Bei der PISA-Untersuchung gab über die Hälfte der Schüler an, daß weder Lehrer noch Eltern sich für das, was sie in der Schule leisteten, interessierten.

Der Unterricht war für alle Schüler gleich, und es gab nur eine Schule für alle. Jedem großen Entwicklungsschritt ordnete Wilhelm eine eigene Schulform zu: Ein wesentlicher Entwicklungsschritt liegt zwischen dem fünften und sechsten Lebensjahr, da wurde das Kind in die Elementarschule eingeschult; der nächste zwischen dem neunten und zehnten Jahr, in dem der Schüler auf die Gelehrtenschule, die man später Gymnasium nannte, wechselte. Der dritte Entwicklungsschritt liegt bei etwa 18 Jahren, dem ordnete Wilhelm den Beginn des Universitätsstudiums zu. Wilhelm wollte keine anderen Schultypen, die Realschule schaffte er ab. Jedes Kind ging auf das Gymnasium, genoß also die höchst mögliche Bildung. Da viele Kinder die Schule nicht bis zum Abitur besuchen konnten oder wollten, mußte der Lehrplan so gestaltet werden, daß der Schüler jederzeit die Schule verlassen konnte, ohne mit einer unfertigen Bildung dazustehen. Für diese Form der Einheitsschule könnte man sicher die meisten Eltern gewinnen. Wilhelm lehnte die Erziehung nach Ständen ab, und er überwand sie, indem er in den öffentlichen Schulen eine Bildung etablierte, mit der kein Privatlehrer mithalten konnte, sodaß der Adel gezwungen war, seine Zöglinge auf das Gymnasium zu schicken, wo sie neben dem Handwerker- und Bauernsohn die Schulbank drückten. Das ist Chancengleichheit! Die jahrhundertelange Vormachtstellung des Adels war gebrochen, und für einige Jahrzehnte setzte der zweite Stand die Maßstäbe in Bildung und Kultur. Gleichzeitig war die Basis für den ungeahnten Aufstieg Preußens und Deutschlands auf allen Gebieten der Wissenschaft, der Technik und der Kultur gelegt.

Renaissance schöpferischer Bildung

Das ist der Weg, den wir einschlagen müssen. Wir brauchen eine einheitliche Bildung für alle Kinder und zwar auf einem hohen inhaltlichen Niveau. Die Disziplinlosigkeit in den Schulen ist auch eine Folge der geistigen Unterforderung. Schüler müssen die Erfahrung machen dürfen, daß sie selbst denken können, und nicht im Unterricht mit irgend etwas beschäftigt werden, dann wird der Aggressionspegel automatisch sinken. Ersetzen wir die neue Mathematik durch konstruktive Geometrie und fordern wir die Schüler heraus, sich mit alten Sprachen, die allein schon wegen ihrer Fremdheit faszinieren, zu beschäftigen! Fördern wir das Sozialverhalten und das kreative Denkvermögen der Jugendlichen, indem sie ein Instrument lernen und im Schulorchester spielen dürfen! Auf die Krise der Schule mit einer Hinwendung zum praktischen, handwerklichen Unterricht zu antworten, mag zwar die drängendsten Probleme vorübergehend mildern, es wäre aber letztendlich eine Kapitulation und ein Rückfall in die Ständeerziehung des 18. Jh. Berlin ist auf dem weiten Gebiet der Erziehung bisher nur einmal positiv aufgefallen - bei dem Modellversuch musikbetonter Schulen. Seit etwa zehn Jahren dürfen in dreizehn ausgewählten Schulen die Kinder ein Instrument lernen, und dem Musikunterricht sind mehr Unterrichtsstunden gewidmet. Das Projekt wird von einer Langzeitstudie begleitet, die von herausragenden Ergebnissen spricht. Das soziale Verhalten der Schüler änderte sich spürbar, die Kinder sind ausgeglichener und ruhiger. An den musikbetonten Schulen gibt es keine Gewalt, obwohl sie alle in sozialen Brennpunkten liegen. Außerdem wirkt sich der Musikunterricht auf die Entwicklung der Intelligenz und die schulischen Leistungen segensreich aus.

Das brauchen die Schulen dieser Stadt. Aber nein, die Schulverwaltung geht den exakt entgegengesetzten Weg: Bis zum Jahr 2008 wird jegliche Förderung für die musikbetonten Schulen auslaufen. Jedes Kind solle individuell gefördert werden, lautet die Leerformel der Bildungspolitiker, aber alles, was nicht in ihr enges, abgezirkeltes Konzept paßt, wird gestrichen. Und die derzeitige Moderichtung im Bildungsbereich lautet nun einmal Ganztagsschule und Eliteförderung. Wir, die BüSo, haben Konsequenzen aus der Bildungskrise gezogen und mit der LaRouche-Jugendbewegung eine Erziehungsbewegung ins Leben gerufen, die auf den Bildungsideen Humboldts ruht. Unsere Jugendlichen studieren die Evolution der menschlichen Erkenntnis, indem sie die wesentlichen Entdeckungen der Menschheit als kreativen Prozeß nachvollziehen. Der Schwerpunkt liegt auf der physischen Geometrie und dem Belcanto-Gesang. Die LaRouche-Jugendbewegung ist die Antwort auf das finstere Zeitalter in der Erziehung, das wir gegenwärtig durchleben. Diese Prinzipien müssen wieder in die allgemeinen Lehrpläne, sie müssen in den Schulen Einzug halten. Wir brauchen nichts weniger als eine regelrechte umfassende Renaissance, angefangen in der Schule, über die Wirtschaftswissenschaften bis hin zu den schönen Künsten, die hoffentlich bald diesen Titel wieder verdienen werden.


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